„Fimbulwinter“ spielt ein Jahr nach den Ereignissen der ersten drei Bände. Es knüpft also mit etwas Pause an die Geschehnisse an. Es entstand vor allem aufgrund der Nachfrage vieler Leser:innen, die wissen wollten, wie es mit Sam und Lizzie oder auch den anderen, weitergeht.
Die Reihenfolge:
04 Fimbulwinter
Klappentext
»Vielleicht sollte es einfach nicht sein. Vielleicht hätten wir nie zusammenkommen dürfen.«
Ein Jahr ist seit der Rückkehr aus dem Paradies vergangen und zur Feier dieses Jubiläums werden auch Sam und Lizzie eingeladen. Eigentlich wollten die beiden ein normales Leben führen, doch das Schicksal hat andere Pläne. Gerüchte um neue Wesen werden laut. Wesen, die weder den Engeln noch Dämonen bekannt sind und eine Magie besitzen, mit der es keiner aufnehmen kann – außer vielleicht Lizzie. Um ihren Freunden beizustehen, verlassen die beiden ihr friedliches neues Leben und stellen sich einer Gefahr, die größer ist als alles Vorherige. Denn diesmal steht alles auf dem Spiel, wofür sie so hart gekämpft haben.
Leseprobe
Kapitel 1: Vorahnungen
Mit klopfendem Herzen fuhr Sam in die Höhe. Seine schwarzen Augen kehrten blinzelnd zu ihrem gewohnten Blau zurück. Nur mit Mühe beruhigte er sich, der Atem ging schwer und das Herz raste noch immer. Es war nur ein Traum. Ein einfacher, doofer Traum. Das hat gar nichts zu bedeuten.
Er fuhr sich mit seiner zitternden Hand durchs kastanienbraune Haar, das ihm wirr vom Kopf abstand. In seinen Träumen sowie der Realität hatte er Lizzie zu oft sterben sehen, als dass er diese Bilder einfach verdrängen könnte. Wenn er die Augen schloss, sah er, wie ihr Blut langsam zu Boden tropfte. Azrael hielt sie dabei in seinen Armen, die weißen Flügel wie zum Hohn gespreizt. Sam sah, wie Lizzie den Herrscher des Himmels fassungslos anblickte, als könnte sie nicht glauben, dass sie jetzt wirklich sterben würde. Mit letzter Kraft hielt sie sich an ihm fest, bis Azrael sie beinahe sanft zu Boden sinken ließ.
Stop. Wieso tue ich mir das immer wieder an? Sam schüttelte den Kopf, und die Erinnerungen verschwammen. Diese Geschehnisse lagen lange zurück, fast ein Jahr. Lizzie lebte, sie alle lebten, und es ging ihnen gut. Er tastete mit einer Hand nach ihr, wollte sich persönlich davon überzeugen.
Doch die Bettseite neben ihm war leer.
Leise stieß er einen Seufzer aus. Das gut schien wohl etwas zu voreilig gewesen zu sein.
Lizzies Bettseite fühlte sich noch warm an, sie konnte nicht lange vor ihm wach geworden sein. Es kam häufiger vor, dass er durch ihr Fehlen wach wurde, doch das letzte Mal lag bereits einige Tage zurück. Die Zeit nach ihrer Rückkehr aus dem Himmel war am schlimmsten gewesen, mehrmals pro Nacht war Lizzie mit einem Schrei auf den Lippen aufgewacht. Sam hatte angenommen, dass die Zeit einige der Wunden heilen konnte, aber dies schien nicht auf alle Wunden zuzutreffen.
Tief atmete er ein und schwang die Beine über den Bettrand. Unter seinen bloßen Füßen spürte er den kalten Holzboden, der leise knarzte, als er zum Stuhl tapste. Sam stieg in seine Trainingshose und griff sich die graue Kapuzenjacke von der Stuhllehne. Einst war es Lizzies Zimmer gewesen, doch seit Raphael die meiste Zeit außerhalb des Hauses verbrachte, hatten sie es zu ihrem gemeinsamen Zimmer erklärt. Jeder wusste, dass sie zusammen waren. Es gab kein Versteckspiel mehr, keine Geheimnisse. Nicht, dass das bei allen auf Zustimmung stoßen würde, doch das spielte für ihn und Lizzie keine Rolle.
In dem bunten Haus herrschte Stille, lediglich unterbrochen von seinen Schritten auf der alten Holztreppe. Sie knarzte bei jeder Bewegung, schon seit er denken konnte. Raphael und Lizzie weigerten sich jedoch hartnäckig, die alten Dielen austauschen zu lassen. Besonders Lizzie war der Meinung, dass dies zum Charme des bunten Hauses beitrug, und Sam hatte eines Tages kopfschüttelnd nachgegeben. Es war häufig vergebene Liebesmüh, Lizzie etwas auszureden, was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte.
Auf seinem Weg nach unten sah Sam sich nicht um. Er hatte eine Vermutung, wo Lizzie sich aufhielt und wäre außer ihnen beiden noch jemand hier gewesen, hätte er das ohnehin längst gespürt. Es gab wenig, was vor ihm in den Schatten verborgen bleiben konnte. Seit dem Bruch des Siegels war Sam stärker mit ihnen verbunden, als es je zuvor der Fall gewesen war. Manchmal fühlte es sich an, als wären sie eine einzige Person oder als wäre er eine Manifestation der Schatten. Schon früher war es ihm schwergefallen, Luzifers Erbe zu kontrollieren. Aber seit dem letzten Jahr war es an manchen Tagen ein schmaler Grat zwischen Wahnsinn und Kontrolle.
Am Fuß der Treppe angekommen, bog er nach rechts ab. Halb verborgen im Schatten der Treppe lag die grüne Tür zum Garten. Normalerweise war sie verschlossen, jetzt stand sie weit offen, und kalter Herbstwind wehte herein. Mit leisen Schritten näherte Sam sich dem Garten, geprägt durch jahrelange Kämpfe und Erfahrungen, obwohl er wusste, dass es nicht notwendig war. Niemand wäre verrückt genug, sie hier anzugreifen.
Er blieb am Türrahmen stehen, hielt sich daran fest. Sam konnte die raue, abblätternde Farbe unter seinen Fingern fühlen. Wie zur Begrüßung strich ihm der Nachtwind kühl über die Wangen.
Seine Augen ruhten jedoch einzig auf Lizzie.
Sie saß auf der alten Schaukel und bewegte sich sachte, hatte ihm den Rücken zugewandt und ihn noch nicht bemerkt. Erst fand Sam das seltsam. Er runzelte die Stirn. Seit ihrer Rückkehr aus dem Himmel waren sie beide vorsichtiger geworden, und Lizzie tendierte zur Schreckhaftigkeit. Doch als er einen Schritt in den Garten trat, erkannte er den Grund für ihre Unachtsamkeit.
Die Magie umfloss ihn augenblicklich, sodass alle Instinkte ihm dazu rieten, stehen zu bleiben. Der Wind war nicht mehr kühl, sondern forsch, als wollte er herausfinden, wer sich in seiner Nähe aufhielt. Unter seinen Füßen vibrierte die Erde, schien zu ihm zu sprechen. Es war ein leises Flüstern, ohne dass Sam die Worte verstehen konnte, dennoch rann ihm ein Schauer über den Rücken. Das Blut rauschte in seinen Adern, und die Schatten in ihm begehrten auf. Nur mühsam unterdrückte Sam den Impuls, sie einzusetzen. Das ist Lizzie, rief er sich selbst in Erinnerung. Keine Gefahr, kein Hinterhalt. Einfach nur Lizzie.
Nicht, dass das alle Engel und Dämonen beruhigen würde. Lizzie war offiziell ein Mensch, doch sie verfügte nach wie vor über Kräfte, die sie gar nicht haben sollte. Und die sie offensichtlich nicht unter Kontrolle hatte.
Sam ging einen Schritt weiter, ignorierte das herausfordernde Grollen der Erde. Selbst die Schatten unter Lizzie schienen in seine Richtung zu zucken. Man durfte nicht den Fehler machen, sie oder ihre Kräfte zu unterschätzen. Trotzdem kam Sam nicht umhin, dass sie auf ihn noch immer verletzlich wirkte, und für einen Augenblick betrachtete er sie. Ihren schmalen Rücken und die zarten, unbedeckten Hände, welche die Kette der Schaukel festhielten. Wenn er sie so sah, konnte man leicht vergessen, was sie alles durchgemacht hatte.
Lizzie hatte den Blick gen Himmel gerichtet, als könnte er ihr Antworten auf ihre Fragen geben. Oder als suchte sie nach einem Zeichen, einem Hinweis darauf, was geschehen würde. Ihr erdbraunes Haar wehte in der Magie, obwohl außerhalb des Gartens kein Lufthauch bemerkbar war.
Mit einem kaum hörbaren Atemzug trat Sam auf sie zu. Er überquerte den grünen Rasen, fühlte den Tau auf seinen nackten Füßen und die kalten Grashalme, die über seine Haut strichen. Leise rauschten die Bäume um ihn herum, und die letzten Blätter lösten sich von den Ästen, segelten zu Boden wie Federn.
„Wieder ein Albtraum?“, erkundigte er sich leise, obwohl er die Antwort bereits kannte.
Beim Klang seiner Stimme zuckte Lizzie zusammen, und schlagartig zog sich die Magie zurück. Es herrschte wieder Windstille, die Kälte des Herbstes strömte zu ihm und alles um sie herum wirkte normal. Doch das war es nicht.
Von hinten legte Sam ihr die Kapuzenjacke über die bloßen Schultern, gab ihr einen Kuss auf das Haar und setzte sich auf die Schaukel neben ihr. Es war lange her, seit er das letzte Mal hier gesessen hatte, obwohl sich sein Leben fast schon normalisiert hatte.
Sanft lächelte Lizzie. „Es geht mir gut, Sammy. Du musst dir keine Sorgen machen.“
„Wenn es dir gut ginge, würdest du ruhiger schlafen“, hielt er dagegen. „Aber nun sitzt du mitten in der Nacht hier draußen.“
„Ich wollte dich nicht wecken“, erklärte sie und wich seinem Blick aus. „Es hat keinen Sinn, dass wir beide wach sind. Schließlich bin ich nicht die einzige mit Albträumen.“ Vielsagend zog sie eine Augenbraue in die Höhe, lächelte dabei jedoch.
„Bei mir sind es mehr Erinnerungen, wie du weißt.“
Sie griff nach seiner Hand. „Diese Tage sind vorbei. Es geht uns gut, das alles liegt jetzt hinter uns.“
„Vergessen kann ich es trotzdem nicht.“ Bei dem Gedanken an seinen letzten Traum schluckte Sam den Kloß in seinem Hals hinunter. „Aber lenken wir nicht davon ab, dass du mich hättest wecken sollen. Gerade durch diese Träume weißt du, dass ich mir schnell Sorgen mache. Also, was ist los?“
„Nichts.“
Sam stand auf und stellte sich vor sie, hielt Lizzie mitten in der Schaukelbewegung an. „Du bist vieles, Lizzie. Vor allem aber eine schlechte Lügnerin.“ Ihre Finger fühlten sich kalt an unter seiner Hand.
Sie biss sich auf die Lippe, errötete leicht. „Ich hatte wieder einen Albtraum von den Himmelstoren. Und dann wurde ich durch die Elemente geweckt“, gab sie zu, und Sam betrachtete sie aufmerksam.
„Das war nicht der erste Weckruf, richtig?“
„In den letzten Tagen passiert es öfter. Vielleicht liegt es einfach an dieser Zeit.“
„Dennoch machst du dir Sorgen. Genau wie ich.“
„Die Elemente tun mir nichts.“
„Wie kannst du dir da so sicher sein?“
„Ich bin es einfach.“ Lizzie zuckte mit den Schultern. „Sie fühlen sich nicht wie eine Bedrohung an oder wie das, was du von den Schatten erzählst.“
„Dennoch sind es Kräfte, die man nicht unterschätzen sollte.“
„Das sagst du mir?“ Skeptisch sah sie ihn an. „Vergiss nicht, dass ich praktisch eine komplette Welt mit diesen Kräften zerstört habe.“
„Womit wir wieder an dem Punkt meiner These angekommen wären“, stellte Sam fest. „Nämlich dem, dass du dir Sorgen machst. Über das, was das Schicksal gesagt hat.“
„Ich weiß es nicht.“ Zum ersten Mal wirkte sie müde. „Wir haben beide genügend Filme gesehen um zu wissen, dass der Bösewicht am Ende nochmal einen drauflegen und eine letzte Drohung aussprechen muss.“
„Das mag sein. Dennoch wissen wir ebenfalls beide, dass dir der Gedanke Angst macht: Die Möglichkeit, dass diese Drohung ernst gemeint war. Nach wie vor träumst du von den Toren, obwohl es fast ein Jahr her ist. Du könntest also einfach zugeben, dass es zwischen dieser Drohung und deinen Albträumen einen Zusammenhang gibt.“
Sie biss sich auf die Lippe, und trotz seiner Sorgen musste Sam schmunzeln. Lizzie hätte wissen müssen, dass es keinen Sinn machen würde, ihn zu belügen. Sie kannten sich, seit sie kleine Kinder waren. Spätestens dank Azrael gab es keine Geheimnisse mehr zwischen ihnen. Sie waren seit ihrer ersten Begegnung am Fluss Maedre derart miteinander verbunden, dass der andere spürte, wenn etwas nicht stimmte. Hatte einer von ihnen Angst, sah der andere bedrückt über seine Schulter. Litt einer Schmerzen, zuckte der andere zusammen. Als Lizzie damals durch Azrael getötet wurde, starb Sam mit ihr.
„Natürlich habe ich Angst“, riss sie ihn aus seinen Gedanken und lehnte ihren Kopf an die rostige Kette der Schaukel. „Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht an diese letzte Drohung denke. Oder an dem ich davon träume, wie jeder Einzelne von euch stirbt. Und zwar bei dem Versuch, mich zu schützen.“ Lizzie schüttelte den Kopf, sah ihn fragend an. „Was hatte es damit gemeint, dass sie kommen würden? Wer sind sie, und stellen sie eine Bedrohung dar? Wenn ja, was wollen sie von uns? Müssen wir jetzt immer auf der Hut sein, werden wir den Rest unseres Lebens …“
Er erstickte ihre weiteren Sorgen mit einem sanften Kuss und nahm ihr Gesicht in beide Hände. „Du hast es selbst gesagt“, erinnerte er sie leise, als er sich wieder von ihr löste. „Wir sind alle in Sicherheit, es geht uns gut. Was wir alleine dir zu verdanken haben. Vielleicht sollten wir die anderen mal wieder zu uns einladen, damit du dich selbst davon überzeugen kannst.“
Diese gemeinsamen Essen waren eine Art Tradition unter ihnen geworden. Ungefähr einmal im Monat kamen Michael, Idriel, Raphael, Linael, Zack und Gabriel zu ihrem bunten Haus im Wald. Sie aßen und tranken zusammen, lachten und erzählten, häufig bis spät in die Nacht. Seit dem Fall Azraels war aus diesem bunt zusammengewürfelten Haufen eine Familie geworden, immerhin hatten sie eine Menge zusammen durchgemacht.
„Das klingt nach einer schönen Idee“, erwiderte sie mit einem Lächeln. „Und ich würde dir gerne glauben, dass es nur eine leere Drohung war. Aber du hast nicht gefühlt, was ich gefühlt habe.“ Sie senkte den Kopf, ein Schatten huschte über ihr Gesicht. „Diesen Zorn, diesen blanken Hass. Gepaart mit Angst. In diesem Moment, kurz vor seinem Tod, hatte ich das Gefühl, dass ich damit den Untergang für uns alle einleiten würde.“
„Wir wären alle gestorben, wenn du nicht gehandelt hättest. Denk nur daran, wie Michaels Leben ausgesehen hätte, wenn Luzifer sich damals an den Plan gehalten hätte.“
„Das weiß ich, und nach wie vor glaube ich, dass es notwendig war, uns aus diesen Plänen zu lösen. Aber ich habe auch Angst, es dadurch nur schlimmer gemacht zu haben. Ich habe viele Fragen und weiß nicht, ob ich die Antworten darauf hören möchte.“ Ihr schien ein Schauer über den Rücken zu laufen, und kurz schüttelte sie sich. „Es hat sich viel verändert seit diesen Tagen. Ich habe mich verändert, manchmal erkenne ich mich gar nicht wieder.“
„Gut, dann lass uns das ganz vernünftig angehen“, meinte Sam. „Erst einmal: Natürlich hast du dich verändert, aber ich versichere dir, dass du immer noch du bist.“ Er lächelte sie an. „Wäre es anders, wüsste ich das. Immerhin habe ich es schon damals gemerkt, erinnerst du dich? Und was das Schicksal angeht: Wen könnte es mit seiner Drohung gemeint haben? Es gibt kaum noch jemanden, der übrig ist, sieht man von kleineren Fraktionen und ihrem Unmut einmal ab. Aber Asriel und Azrael sind tot, selbst die Himmelswölfe sind fast vollständig ausgerottet. Und von den anderen Urengeln weiß man praktisch gar nichts.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich gehe stark davon aus, dass Azrael sie damals tötete, damit ihm niemand mehr in die Quere kommen konnte. Du hast also die schlimmste Bedrohung, die für uns existierte, selbst vernichtet. Und die Tore sind erneut verschlossen. Es kann kaum etwas Schlimmeres geben als das, was dahinter war.“ Sam war bei ihrem Kampf nicht dabei gewesen, aber die Geschichten, die Lizzie ihm erzählte, hatten ausgereicht. Diesem Wesen von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, musste ein furchtbares Gefühl gewesen sein.
„Aber …“
„Kein Aber“, unterbrach er sie sanft. „Diese Ereignisse liegen schon eine Weile zurück, bald stehen die Feierlichkeiten zum Jahrestag an. Wenn es also eine tatsächliche Bedrohung geben würde, dann hätte sie sich in den letzten Monaten sicher gezeigt. Warum sollten sie warten, wenn sie wirklich existieren?“ Skeptisch zog er eine Augenbraue in die Höhe.
„Vielleicht hat es schon angefangen, und wir wissen nur nichts davon.“
„Glaubst du wirklich, dass dir mit deinen Kräften eine solche Bedrohung verborgen bleiben könnte? Oder mir und Michael? Selbst Gabriel hätte das mitgekriegt, und dann hätte Zack sicherlich augenblicklich auf unserer Fußmatte gestanden.“ Er ging vor ihr in die Hocke und zog die Ärmel ihrer Kapuzenjacke weiter über ihre Arme. „Du machst dir zu viele Gedanken“, erklärte er sanft. „Sofern Azrael und dieses Wesen wirklich tot sind, gibt es keine Bedrohungen mehr.“
Tadelnd sah sie ihn an. „Du weißt genau, dass Azrael nicht der eigentliche Bösewicht gewesen ist.“
„Alle anderen denken das. Und solange du das nicht richtigstellst, wird es auch so bleiben.“
„Ich kann nicht.“ Lizzie seufzte leise, sah ihn direkt an. „Azrael hat sehr viel Mühe darauf verwendet, Asriel als die Gute von ihnen beiden darzustellen. Es wäre ihm nicht recht, wenn ich all diese Bemühungen zunichte mache.“
„Ich denke nicht, dass du oder irgendjemand diesen beiden Verrückten etwas schuldig ist. Nicht nachdem, was sie getan haben.“
„Mit Schuldgefühlen hat das nichts zu tun. Es fühlt sich einfach richtig an.“
Sam schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, mit Lizzie über diese Dinge zu diskutieren. Nur ein kleiner Kreis wusste von den Ereignissen, die hinter den Himmelstoren stattgefunden hatten. Niemand außer ihnen war eingeweiht, und Lizzie hatte sie alle zur Verschwiegenheit verpflichtet. Sie hatte in diesem Kampf alles gegeben und zugleich alles aufs Spiel gesetzt. Wenn sie jemandem etwas schuldeten, dann Lizzie.
Doch trotz dieser Taten und der damit verbundenen Kräfte hatten sie immer noch den Drang, sie schützen zu wollen, Sam ganz besonders. Seit sie auf der Erde waren, hatten sie sich beide versprochen, dass sie sich aus der Magie raushalten würden. Und bis auf wenige Ausnahmen war der Plan aufgegangen, wenn es auch von den anderen, vor allem von Zack, nur schweren Herzens akzeptiert worden war. Ganz zu Schweigen von Michael. Der Gedanke, seine neu kennengelernte Nichte von der Magie und der damit verbundenen Welt auszuschließen, hatte dem Engel gar nicht behagt. Doch als Sam ihm gestand, dass Lizzie zu Beginn beinahe jede Nacht schweißgebadet und schreiend aufgewacht war, geplagt von den Bildern, die nur sie sehen konnte, hatte er seine Meinung geändert.
„Das ist nichts, wobei ich ihr helfen kann“, hatte der Engel nachdenklich erklärt. „Der Umgang mit Magie ist eine Sache, aber Erinnerungen … da muss sie alleine durch. Das schafft sie, es gibt wohl kaum etwas, womit sie nicht fertig wird. Für den Anfang müssen wir es ihr jedoch nicht schwerer als notwendig machen. Sobald sie wieder auf den Beinen ist und Kontrolle über ihre Kräfte hat, können wir uns nochmal über diese Dinge unterhalten.“
Sam schüttelte die Erinnerung ab. „Fühlt sich die Magie auch richtig an?“, erkundigte er sich. Noch war der Zeitpunkt nicht gekommen, dass Lizzie wieder vollständig auf den Beinen war. „Ich dachte, du und Michael habt an der Kontrolle gearbeitet.“
„Das machen wir regelmäßig. Morgen treffen wir uns auch wieder. Allerdings denke ich, dass ihr mehr Angst vor meinen Kräften habt als ich.“
„Vielleicht, weil wir schon länger damit zu tun haben. Es ist sehr leicht, sich in der Magie und der Macht zu verlieren. Mehr als einmal warst du dabei, wenn es mir passiert ist.“ Momente, an die er sich nicht gerne zurück erinnerte. Lizzie war in diesen Augenblicken sein einziger Halt gewesen. So manches Mal hatte er ihre Anwesenheit und Berührungen spüren können, als stünde sie direkt neben ihm. Sie alleine hatte ihn davon abgehalten, die Kontrolle oder seinen Verstand zu verlieren und damit Gabriels Vision zu erfüllen.
„Möglicherweise ist aber auch genau das der Punkt“, widersprach Lizzie. „Ich gehe unvoreingenommener an diese Kräfte ran.“
„Das solltest du nicht.“ Sams Blick wurde ernst. „Unterschätze sie nicht, gerade du solltest das nicht tun. Denn du kanalisierst alle Elemente, und wenn du die Kontrolle verlierst …“ Er schüttelte den Kopf. „Die Katastrophe will ich mir gar nicht erst ausmalen.“ Zumal niemand von Ihnen Lizzie dann aufhalten könnte. Sie hatte selbst Zugang zu den Schatten, sodass auch er eine Katastrophe nicht verhindern konnte.
„Ich werde die Elemente nicht unterschätzen“, versprach Lizzie. „Das mache ich wirklich nicht. Ich wende sie schließlich so gut wie nie an.“
„Du musst sie nicht bewusst anwenden, um sie zu rufen. Erst vorhin warst du von ihnen umringt.“
„Wirklich?“ Lizzie runzelte die Stirn.
„Dass es dir nicht aufgefallen ist, sollte dir zu denken geben.“ Er hatte sich so etwas schon gedacht, es war Lizzie nicht das erste Mal passiert. Die Elemente schienen sich doch ihrer Kontrolle zu entziehen. „Du solltest noch einmal mit Michael darüber reden“, schlug er vor.
„Bestimmt hast du recht.“ Sie schien noch immer dabei zu sein, sich an die letzte Stunde zu erinnern. „Ich schreibe ihm gleich.“
„Morgen“, bat er sie, reichte ihr eine Hand. „Erst einmal sollten wir beide wieder zurück ins Bett.“
„In Ordnung“, seufzte Lizzie, ließ sich von Sam aufhelfen. „Gehen wir zurück ins Bett.“
„Wollen wir vorher noch zusammen einen Tee trinken?“ Eine der vielen Kleinigkeiten, die er von Raphael gelernt hatte: Eine Tasse Tee vertrieb alle Sorgen, selbst die hartnäckigsten.
„Ein Tee klingt gut“, stimmte sie lächelnd zu. „Und das mit dem Essen sollten wir auch bald machen.“
Zusammen gingen sie auf das bunte Haus zu und ließen einander nicht los. Kurz, bevor sie die grüne Tür erreichten, warf Sam einen Blick über seine Schulter. Er hatte das seltsame Gefühl, dass sie beobachtet wurden, doch er konnte nichts entdecken.
„Alles in Ordnung?“
„Sicher“, erwiderte er und blinzelte mehrmals. Jetzt habe ich schon ohne Magie das Gefühl, verrückt zu werden. Er schüttelte diesen Gedanken ab und folgte Lizzie ins Innere des Haues. Sie schlossen die Nacht aus und Sam rief sich in Erinnerung, dass es nichts gab, um das sie sich sorgen mussten. Sie waren in Sicherheit, sie waren zusammen.
Und solange sie zusammen waren, konnten sie alles schaffen.
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