Paradies

„Paradies“ ist der dritte Band von „Schattenengel“ und damit der Abschluss der ursprünglichen Trilogie.

Die Reihenfolge:

01 Erde

02 Himmel

03 Paradies

04 Fimbulwinter

05 Weltenbrand

Klappentext

Nach dem Angriff auf die Rebellenstadt wird Lizzie von ihren Freunden getrennt. Gemeinsam mit Camael macht sie sich auf den Weg zum Weltenbaum, um den Kampf gegen Asriel endlich zu beenden. Währenddessen bereiten sich Gabriel und Raphael auf einen Krieg im Himmel vor und sind sogar bereit, die Dämonen um Hilfe zu bitten. Doch dann unterbreitet ihnen der Engelsrat Azraels Angebot, das vielen Engeln die Freiheit verspricht. Alles hängt davon ab, ob Lizzie den Weltenbaum rechtzeitig erreicht. Nur sie kann die Wahrheit über Azrael und die Tore aufdecken.

Leseprobe

Kapitel 1
Langerwartetes Wiedersehen

Die Welt ging unter, verschwand unter einer schwarzen Decke aus Schatten. Doch alles, woran Michael denken konnte, war sie. 

„Lizzie!“ Er brüllte ihren Namen, richtete sich mühsam wieder auf. Die Explosion, ausgelöst durch den Kontakt von Azraels Magie mit der Dunkelheit, hatte auch ihn nach hinten geschleudert. Aber das war nicht möglich. Wenn jemand die Schatten rief, dann konnte das nur eine einzige Person tun. Wie hätte Sam den Weg in den Himmel finden sollen? Das ergab keinen Sinn. 

Michael stützte sich an der Hauswand ab, während die Welt sich langsam weiterdrehte. Die schwarzen Schwaden verzogen sich, hingen wie Nebel über dem Höhlenboden. In seinen Ohren dröhnte es dumpf. Wie in Trance sah Michael den Flammenbällen zu, die Meteoriten gleich vom Himmel fielen, als wollten sie die Schatten höchst selbst vertreiben. Sie stürzten auf die Stadt der Rebellen, ihr Einschlag erschütterte die Erde und ließ einige der Häuser zusammenstürzen. Das Feuer setzte all das in Brand, was die Rebellen sich in den letzten Jahrhunderten aufgebaut hatten. Innerhalb weniger Minuten wurde ihr Lebenswerk zerstört. Jeder Engel, der sich den Himmelswölfen in den Weg stellte, wurde getötet. Azraels Krieger waren nicht hier, um Gefangene zu machen. Sie marschierten durch die Stadt, mit einem klaren Ziel vor Augen: Lizzie. 

Rauch erfüllte die Luft, erstickte die Schreie der fliehenden Rebellen. Kaum einer wagte es, sich den Wölfen entgegenzustellen. Und falls doch, so wurden sie zur Seite gefegt.

Hilflos sah Michael ihnen zu, der Schmerz dröhnte durch seinen Kopf. Krachend schlug ein weiterer Feuerball in den Baum, der auf das nächststehende Haus krachte und mit sich zu Boden riss. Er fühlte, wie die Hauswand unter seinen Händen vibrierte, als die Erschütterung über die Erde jagte.

„Lizzie!“ Michael kämpfte sich an dem Graben entlang, der sie voneinander trennte. Er hielt verzweifelt Ausschau nach der vertrauten Gestalt seiner Nichte. Sie konnte nicht weit sein. Er hatte gesehen, wie sie zu Boden gestürzt war. Was, wenn er zu spät kam? Wenn ihr in der Zwischenzeit etwas passiert war? 

Um ihn herum drehte sich alles. Michael griff sich an die Stirn, bemerkte das Blut an seinen Fingerspitzen. Dunkel erinnerte er sich an seinen Sturz, an den Angriff Azraels. An die Schatten, die sich dazwischenschoben. 

Er hielt sich an den Trümmern der Häuserwand neben ihm fest, taumelte einen Schritt nach vorn. Konzentriere dich! Irgendwie musste er einen Weg hier raus finden, er musste Lizzie finden. Sie mussten aus der Rebellenstadt fliehen, solang sie noch die Chance dazu hatten. 

Die Rebellen hasteten an ihm vorbei, stießen ihn an und versuchten, ihn mit sich zu ziehen. Nur mit Mühe riss Michael sich los, stemmte sich gegen den Strom. 

„Lauft!“, rief er ihnen zu. Er würde nicht mit ihnen fliehen, nicht, bevor er Lizzie gefunden hatte. „Raus hier!“ Azrael würde nicht zögern, jeden Einzelnen von ihnen töten zu lassen. Wie es aussah, hatte der Himmelsherrscher nun genug von dem Widerstand. 

Michael deutete auf den Fluss der Gaben, an dem noch immer einige der Boote vertäut waren. Viele waren nicht mehr vorhanden. „Flieht! Macht, dass ihr fortkommt!“, rief er den Rebellen zu. Er lief weiter an dem Graben entlang, bis er endlich das Ende dieses unnatürlichen Spalts erreicht hatte. In diesem Moment spürte er die Bedrohung in seinem Rücken. 

Michael fuhr herum, dachte nicht einmal darüber nach, als er seine Flammen rief. Einem Drachen gleich schossen sie aus seiner Hand, stürzten sich auf den Himmelswolf und töteten ihn. Mit schnellen Schritten war Michael bei ihm, griff sich dessen Schwert. Durch das vertraute Gewicht einer Waffe in seiner Hand fühlte er sich gleich besser, hatte das Gefühl, tatsächlich etwas bewirken zu können. 

„Lizzie!“ Langsam konnte er wieder klar denken. Wieso antwortete sie nicht? Er kämpfte sich durch die fliehenden Rebellen voran, weiter und immer weiter. Sie musste hier irgendwo sein, dies war die Stelle, an der Azrael sie angegriffen hatte. Wieso nur war sie nicht ausgewichen? Was sollte er tun, wenn Asriel erneut die Kontrolle über ihren Körper übernommen hatte? Er konnte nicht gleichzeitig gegen sie und Azrael kämpfen. 

Er schob die Engel zur Seite, hielt einen weiteren Wolf davon ab, einen der Rebellen zu töten. Rasch stieß er dem Himmelswolf das Schwert in den Unterleib. Michael wusste, dass er dem Widerstand helfen konnte, dass er es tun sollte. Auch sie waren nur Engel. Sie waren Teil seines Volkes, sie gehörten zum Himmel und damit zu denen, die zu beschützen er vor langer Zeit geschworen hatte. Alles in ihm schrie danach, sich ihnen anzuschließen, ihnen den Weg zu weisen, damit sie in Sicherheit waren. 

Aber er konnte es nicht. Nicht ohne Lizzie. 

Vor ihm lichtete sich die Menge. Durch den Rauch konnte er seine Umgebung nun deutlicher erkennen. Als er Lizzie sah, setzte sein Herz jedoch einen Schlag aus, unter ihm knickten die Beine weg. Haltsuchend stützte sich Michael an einer Wand ab. Die Spitze seines Schwertes sank zu Boden, Blut lief langsam die Klinge hinunter.

Mitten im Chaos kniete Lizzie. 

Die Rebellen hasteten an ihr vorbei, schienen nicht zu bemerken, was direkt zwischen ihnen geschah. Blut lief Lizzie über die Stirn, tropfte langsam zu Boden. Sie achtete nicht auf den Krieg, der um sie herum tobte. Die Himmelswölfe jagten die Rebellen durch die Stadt, aber keiner der Angriffe traf Lizzie, als trauten sich nicht einmal die Elemente, diesen Augenblick zu stören. 

Denn alles, worauf Lizzie achtete, war die Gestalt direkt unter ihr. Ihr Blick ruhte auf einem jungen Mann mit kastanienbraunen Haaren und nasser Kleidung. 

Sam, fuhr es ihm durch den Kopf. Michael hatte ihn in Lizzies Erinnerungen gesehen. Dieser Junge war der Grund für die Schatten, er hatte Lizzie vor Azraels Angriff gerettet. Doch wie war das möglich? Wie hatte der Dämonen einen Weg in den Himmel gefunden? 

Michael schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und ging einen Schritt auf die beiden zu. 

Er sah, wie Lizzie zitternd eine Hand ausstreckte, Sams Wange berührte. Halb erwartete Michael, dass sich die Gestalt des jungen Mannes auflösen würde, aber nichts dergleichen geschah. 

Stattdessen lächelte Sam. 

*

„Sam?“ Lizzie konnte nicht glauben, dass er hier war. 

„Bitte sag mir, dass das ein Trugbild ist“, bat sie Asriel. „Bitte nimm mir nicht meine letzte Hoffnung.“ Die Hoffnung, dass Sam in Sicherheit war, dass er zu Hause auf sie wartete. Damit sie eines Tages wieder zusammen sein konnten.

„Es tut mir leid“, erwiderte Asriel leise. „Sieht so aus, als wäre er wirklich hier.“ 

Lizzie strich mit den Fingerspitzen über Sams Wange, hatte die Stoppeln viel kürzer in Erinnerung. Sie ertastete die kleine Narbe an seinem Kinn, atmete tief seinen Duft ein. Es roch nach verbrannter Erde, nach Blut und Schweiß, aber über alledem lag ein Hauch von Zimt. Das konnte keine Einbildung sein, niemand konnte diesen Duft nachahmen. 

Er lachte, ein leises und ehrliches Lachen, das aus den Tiefen seiner Seele zu stammen schien. Es klang so unwirklich, passte nicht an diesen Ort und in dieses Chaos. Und doch fuhr Lizzie ein Schauer über den Rücken. Sie kannte dieses Lachen, hätte es überall wiedererkannt. Es war dasselbe Lachen, das sie in ihren Gedanken hörte. Immer dann, wenn sie sich mit aller Macht an eine der ihr noch verbliebenen Erinnerungen klammerte. Es war ein Lachen aus einer anderen Zeit, von einem fernen, schlammigen Flussufer. Trotz allem, was passiert war, hatte sich dieses Lachen seine Unschuld bewahren können. 

„Natürlich bin ich es“, erwiderte Sam, als könnte er ihre Gedanken lesen. Bei dem Klang seiner Stimme erzitterten ihre Knie. Seine Hand bedeckte ihre, drückte sie sanft an seine Wange. „Oder hast du jemand anderen erwartet?“ Er lächelte. „Dann wäre ich persönlich beleidigt.“ 

Sie stieß ein Schnauben aus, wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

Sam nahm ihr die Entscheidung ab. Er zog sie zu sich runter und nahm sie in die Arme. Drückte sie an sich, als wäre es das Letzte, was er jemals tun würde. 

„Ich bin da“, flüsterte er. „Hast du wirklich gedacht, ich würde dich das allein durchmachen lassen?“

Ihr Ohr lag an seiner Brust, sie konnte seinen hämmernden Herzschlag hören. Ein Geräusch, das ihr so vertraut war wie ihr eigenes Herz. Sie wagte kaum, zu atmen, aus Angst, dass sich all das einfach auflösen könnte. Sie wollte nicht, dass er hier war, und gleichzeitig wünschte sie sich mit aller Kraft, dass es wahr war. 

„Aber … wie?“ 

„Gabbs“, erklärte er, ein leises Lachen vibrierte in seiner Brust. „Allerdings weiß ich nicht, ob sie mir damit helfen oder mich umbringen wollte.“

„Das ist nicht lustig!“, schimpfte sie. Lizzie musste lachen, und doch liefen ihr die Tränen über die Wange. „Du solltest nicht hier sein“, fügte sie leise hinzu. 

„Dasselbe wollte ich dir auch gerade sagen.“ Sam drehte vorsichtig ihren Kopf, damit er ihr ins Gesicht sehen konnte. Er musterte sie. Sicherlich sah er die dunklen Schatten unter ihren Augen, dachte sich seinen Teil. Sein Blick verfinsterte sich. Er strich ihr über die Wange, verwischte sanft die Tränen darauf. „Wir kommen hier raus“, versprach er. 

Sie nickte, richtete sich halb auf. Plötzlich wurde sie von hinten gepackt, stieß einen erschrockenen Schrei aus. 

Mit einem Sprung war Sam auf den Beinen. Die Schatten eilten an seine Seite, bereit, sich auf ihren Angreifer zu stürzen. Sie stürmten auf die Gestalt hinter Lizzie zu, aber sie stellte sich ihnen ruckartig entgegen. 

„Nicht!“ Mit ausgestreckter Hand hielt sie die Dunkelheit auf, spürte Michaels Hand an ihrer Schulter. Abrupt hielten die Schatten inne, und Sam sah sie verwirrt an. „Er ist mein Freund“, erklärte sie, sah ihm in die Augen. Sie konnte die Dunkelheit darin flackern sehen, finsterer und tiefer als sonst. Was hatte Sam durchstehen müssen, bis er sie hier gefunden hatte? Er schien nahe am Rand des Wahnsinns zu stehen. Wie in dem Traum, den sie von ihm gehabt hatte. Hoffentlich würde er diese Freundschaft verstehen. Nur zu gut wusste sie, welche Bedenken Sam gegen Michael geäußert hatte, Aber der Engel war nicht mehr derselbe Mann wie zuvor. 

Sam schüttelte den Kopf, sah an Lizzie vorbei zu Michael. „Ich hoffe, du weißt, was du tust“, meinte er und blickte ihr wieder in die Augen. 

„Könnten wir uns darüber vielleicht später unterhalten?!“, schaltete Michael sich ein. Mit einer Hand deutete er auf Azrael, der mithilfe seiner Himmelswölfe langsam wieder auf die Beine kam. Sams Angriff hatte ihn gegen eines der Häuser geschleudert. 

„Sie darf nicht verletzt werden!“, befahl Azrael seinen Wölfen und sah zu ihnen herüber. „Bringt sie zu mir!“ 

Die Wölfe riefen nach ihren Elementen, Feuer und Wasser zischten gleichermaßen durch die Luft. 

„Los jetzt!“, befahl Michael. „Ich habe keine Lust, dass du meinem Vater erneut gegenüberstehst!“ 

„Erneut?“ Sam hob eine Augenbraue in die Höhe. 

Lizzie nickte. Später war noch genug Zeit, um ihm alles zu erklären. Michael hatte recht, sie mussten hier raus. 

„Später“, nickte Sam, schien ihre Gedanken zu erraten. Er bewegte die Hand, und die Schatten bewegten sich mit ihm, als er sie aus seinem Griff entließ. Wütend fauchten sie, bahnten sich ihren Weg durch die Rebellen. Sie wehrten die Feuerbälle der Krieger ab, stürzten sich auf sie wie eine Meute hungriger Hunde. Schreie ertönten aus der Dunkelheit, Stahl blitzte auf. 

Michael zog Lizzie mit sich. Er strebte in Richtung des Flusses.

Sie stolperte hinter ihm drein. Hastig sah sie sich nach Sam um. 

„Ich bin hier.“ Er griff nach ihrer anderen Hand. Aber sie konnte in seinen schwarzen Augen sehen, dass er nicht wirklich hier war. Er kämpfte mit sich, kämpfte gegen den Drang in seinem Innern. Es war ein Kampf, den er nicht gewinnen konnte. Lizzie ahnte, was in ihm vorging, es musste sich ähnlich wie bei ihr anfühlen. Wie in den Momenten, in denen Asriel versuchte, sie zurückzudrängen, die Kontrolle über ihren Körper zu übernehmen. Sie wollte Sam diesen Druck nehmen, ihm sagen, dass sie ihm helfen konnte. 

„Vorsicht!“, rief sie stattdessen, beschwor den Wind und wehrte so Azraels Angriff ab.

Seine Wassermagie prallte an ihrem Schutz ab. Lizzie taumelte einen Schritt zurück, bis Michael sie auffing. Sie griff sich an die Nase, fühlte das Blut auf ihren Fingerspitzen. 

Sam fuhr zu ihr herum, ein verstörter Ausdruck huschte über sein Gesicht. Zornig zogen sich seine Augenbrauen zusammen. Mit geballten Fäusten wandte er sich zu Azrael um. Er rief die Schatten, schickte sie zu dem Himmelsherrscher wie eine brodelnde Flutwelle der Vernichtung. 

„Dafür ist keine Zeit!“, rief Michael, zog Lizzie weiter und um die Ecke der Häuserwand herum. „Runter!“, rief er im selben Atemzug, riss sie mit sich zu Boden und beschützte sie mit seinem Körper.

Die Explosion erschütterte die Erde, kleinere Felsbrocken fielen von der Decke. Lizzie krümmte sich zusammen, der Schock dröhnte in ihren Ohren. Sie klammerte sich an Michael fest, der sich nach wenigen Minuten wieder aufrichtete.

Blut lief ihm über die Stirn. „Alles in Ordnung?!“

Sie nickte, aber bevor sie antworten konnte, zog er sie wieder auf die Beine. 

„Sam!“ Sie schrie seinen Namen, und er eilte an ihre Seite. 

„Ich hasse Wölfe!“, fluchte er. 

„Da bist du nicht der Einzige. Hier entlang!“ Michael übernahm die Führung, schien zu wissen, wohin sie gehen mussten.

Sie hatte die Orientierung verloren, sah nur noch die Zerstörung um sich herum. So stellte sie sich die Apokalypse vor, voller Chaos, Blut und Gewalt. Ihr einziger Trost bestand darin, dass sie Azrael aus den Augen verloren hatten. 

Plötzlich blieb Michael stehen, drückte sie mit einem Arm an die Hauswand. Himmelswölfe marschierten an ihnen vorbei, schienen sie nicht zu bemerken. Sollten sie wirklich so viel Glück haben? 

Neben ihr griff Sam nach ihrer Hand, drückte sie. Lizzie wandte ihm den Kopf zu, lächelte. Er sollte nicht hier sein, und doch war sie froh über seine Anwesenheit. Wenn sie zusammen waren, konnte ihnen nichts geschehen. Dabei geschah das alles nur ihretwegen. Sie war diejenige, nach der Azrael suchte. Sie war der Grund, aus dem die Rebellenstadt in Flammen stand. 

„Du musst etwas tun!“, bat sie Asriel. „Du kannst den Engeln helfen, du musst es!“

„Ich bin nicht wegen den Rebellen hier“, entgegnete der Engel. „Wir müssen zum Weltenbaum. Nur darauf kommt es an.“

„Das kann unmöglich dein Ernst sein! Schau dich doch um, willst du das alles ignorieren?“

„Es geht um mehr als das!“, fauchte der Engel. „Wir sind so weit gekommen, das werde ich jetzt nicht für ein paar Engel aufs Spiel setzen! Also geh weiter, konzentriere dich darauf, hier rauszukommen!“ 

„Lizzie!“ Sam packte sie an den Schultern, schüttelte sie. „Lizzie, komm zu dir!“

„Das ist Asriel!“, schimpfte Michael, warf ihr einen besorgten Blick zu. 

„Es geht schon.“ Sie wich seinem Blick aus, wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Wie sollte sie ihm sagen, dass für sie keine Hoffnung mehr bestand? Asriel war nicht bereit, ihnen zu helfen. Sie würden alle hier unten sterben. 

Sam fuhr herum, seine Augen blitzten. „Bring sie hier raus!“, fuhr er Michael an. 

„Was denkst du, was ich hier versuche!“

„Hört auf!“ Sie stellte sich zwischen die beiden. „Das hilft uns nicht weiter!“ Erneut rief sie den Wind um Hilfe, als sich ihnen zwei Himmelswölfe näherten. Sie wurden nach hinten geschleudert, in einen der brennenden Bäume. Aufschreiend versuchten sie, zu entkommen, die Flammen auf ihrer Kleidung zu ersticken. 

Asriel fluchte. „Hör auf, unsere Zeit zu verschwenden! Wir müssen hier raus!“

„Du erteilst mir keine Befehle“, murmelte Lizzie.

Michael schüttelte sie. „Lass dich nicht darauf ein! Das ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für eine Diskussion mit Asriel!“

„Weiß ich auch!“ Doch was sollte sie tun? 

Ihr Onkel deutete nach rechts. „Weiter! Nicht stehen bleiben!“

„Zu spät.“ Sam wies auf die Gestalten, die durch den Rauch auf sie zukamen. Langsam, mit gemächlichen Schritten. Noch waren sie einige Minuten entfernt, aber ihr Ziel war klar. Mitten unter ihnen erkannte Lizzie eine hochgewachsene Gestalt von edler Statur und mit festem Schritt. 

„Azrael.“ Es durchlief sie eiskalt, ihre Hände zitterten. Eine weitere Begegnung mit ihm konnte sie nicht ertragen. Sein grauer Blick hatte sich in ihr Gedächtnis gebohrt, sie fühlte noch immer seine Hände, die sie festgehalten, sie zu einem grotesken Tanz gezwungen hatten. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er sie gleich getötet hätte. 

Auch Michael schien keinen Wert auf eine weitere Begegnung mit seinem Vater zu legen. „Zum Fluss!“, befahl er, griff nach ihrem Handgelenk und zog sie mit sich. 

Fluchend folgte Sam ihnen. Die Schatten brachen aus ihm heraus und hielten auf Azrael zu. Er wartete die Reaktion des Himmelsherrschers nicht ab, drehte sich auf dem Absatz herum und folgte ihnen. „Beeil dich!“, befahl er Lizzie. Die Dunkelheit in seinen Augen schien noch tiefer geworden zu sein. Aber es hielt ihn nicht davon ab, immer weiter zu kämpfen. 

Von den Seiten näherten sich ihnen weitere Himmelswölfe, zogen ihre Schwerter und liefen auf sie zu. 

„Werden die denn niemals weniger?!“ Sam griff in die Schatten, zog die Finsternis daraus hervor. Wie Schlangen, tödlich und hungrig, schossen die Schatten über den Boden auf die Wölfe zu. 

„Halt dich zurück, Sam!“ Michael beschwor seinerseits das Feuer, das in einem rot glühenden Feuerball davonstürmte. „Du verlierst die Kontrolle!“ 

Lizzie sah es ebenfalls. 

Sams finsteren Blick, die zusammengezogenen Brauen. Er zitterte am ganzen Körper, Schweiß durchnässte seine Kleidung. Seine Erschöpfung war offensichtlich, er konnte kaum noch auf den Beinen stehen. Dennoch wich er keinen Schritt zurück. Verbissen kämpften er und Michael Seite an Seite, bildeten einen schützenden Kreis um Lizzie.

Die Wölfe kamen von allen Seiten auf sie zu, trieben sie weiter, bis sie mit dem Rücken am Fluss der Gaben standen. Hektisch sah sie sich um, das Herz pochte wild in ihrer Brust. Sie waren eingekreist, es gab keine Boote mehr am Ufer. Der einzige Ausweg führte durch die Reihen der Himmelswölfe – und damit in Azraels Arme. 

Dennoch kämpften die beiden Männer weiter, als hätten sie trotz allem eine Chance, heil aus diesem Chaos zu gelangen. Noch hatte Azrael sie nicht erreicht, aber es war nur noch eine Frage von Minuten. 

Sam bediente sich der Schatten, beschwor die Dunkelheit mit all der Macht, zu der er fähig war. Unbarmherzig vernichteten sie ihre Gegner, löschten sie aus. Doch es schienen immer neue Wölfe zu kommen, von allen Seiten. Michael unterstützte Sam mit seinem Feuer, aber sie konnten die Krieger nicht zurücktreiben. 

Lizzie handelte intuitiv, ignorierte Asriels Protest in ihrem Kopf. Sie wechselte fließend zwischen den Elementen hin und her, rief nach dem Feuer, beschwor das Wasser und brüllte innerlich den Namen der Erde. Jedes Element kam, jedes Element half ihr, so aussichtslos dieser Kampf auch zu sein schien. Sie keuchte, schien sich in alle Richtungen gleichzeitig zu bewegen, war überall und nirgends zu gleich. Das Blut dröhnte in ihren Ohren, sie fühlte den Druck in ihrem Innern, als würde sie jeden Moment auseinanderbersten. Lang würde ihr Körper dieser Magie nicht mehr standhalten können, doch das musste sie. Sie konnte nicht zulassen, dass ihre Freunde ihren Kampf austrugen. 

In diesem Moment brach Sam zusammen. 

„Sam!“ Sie stockte mitten in der Bewegung, sah völlig erstarrt zu, wie ihr Freund auf die Knie sank. Er warf den Kopf in den Nacken, öffnete den Mund zu einem Schrei, doch kein Laut ertönte. Sie hetzte zu ihm, sank neben ihm nieder. 

Da bemerkte sie die Schatten, die sich um ihn wanden. 

„Nein“, flüsterte Lizzie. Sie griff nach seiner Hand, als könnte sie ihm so den notwendigen Halt für diese Welt geben. Doch er schien sie nicht einmal zu bemerken, seine schwarzen Augen sahen durch sie hindurch. Blickten an einen Ort, den sie niemals würde erreichen können. 

„Sam, nicht.“ Sie nahm sein Gesicht in beide Hände, fühlte die Hitze, die von seiner Haut ausging. „Tu mir das nicht an, Sammy. Komm zu dir!“ Irgendwie musste sie zu ihm durchdringen, sie durfte ihn nicht schon wieder verlieren. Nicht, nachdem sie sich endlich gefunden hatten. 

„Bring ihn hier weg!“, befahl Michael und trat an ihre Seite. Mit einem Flammenschweif hielt er die Himmelswölfe davon ab, ihnen noch näher zu kommen. Unaufhörlich strömten die Schatten aus Sam heraus, verdichteten sich und griffen nach ihm, als wollten sie ihn zu sich in die Finsternis ziehen. 

„Du kannst ihm nicht mehr helfen!“, mischte sich Ariel ein. „Nicht dieses Mal, Lizzie. Du musst ihn gehen lassen, bring dich in Sicherheit! Wenn Sam die Kontrolle verliert, wird er alles in seinem Umfeld vernichten!“

„Das ist mir egal! Ich kann ihn nicht einfach hier zurücklassen!“ Schon bei dem Gedanken krampfte sich ihr Herz zusammen. Sie war nicht bereit, Sam erneut zu verlieren. Nicht hier, und schon gar nicht so. 

„Du musst! Sonst war alles umsonst, was wir bisher durchgemacht haben! Unser Plan …“

„Das ist dein Plan!“, fauchte Lizzie. „Nicht meiner! Ohne Sam werde ich nicht weitergehen!“ Nur ihretwegen war er hier, nur für sie hatte er einen Weg in den Himmel gefunden. 

„Dann muss ich dich dazu zwingen.“ 

Die Kopfschmerzen schlugen mit voller Wucht zu, und Lizzie entfuhr ein Keuchen. Asriel bekämpfte sie, griff mit aller Macht an. Lizzie schloss die Augen, Schwindel erfasste sie. Aber sie ließ Sams Hand nicht los. Dieses Mal würde Asriel nicht gewinnen. Es war ihr egal, wie viele Erinnerungen es sie kosten würde, ob ihr Körper daran zerbrach oder nicht. 

„Ich bin nicht du“, erklärte Lizzie, biss sich auf die Lippe, dass sie blutete. Der Schmerz erinnerte sie daran, dass sie noch immer da war, dass sie noch immer die Herrin über ihren Körper war. Sie umklammerte Sams Hand.

Asriel ließ nicht locker. Übelkeit stieg in ihr auf, als die Kopfschmerzen stärker wurden. Ihre Gedanken entglitten ihr, sie sah Bilder, die sie nicht zuordnen konnte, Bilder von einem zerfallenen Gebäude im Wald. 

„Gib nach!“, forderte der Engel sie auf. „Du kannst das nicht ewig durchhalten. Ich will doch nur, dass wir beide hier rauskommen!“

„Das betrifft nicht mehr nur uns beide.“ Lizzie dachte an Michael, der in diesem Moment für sie kämpfte. Sie dachte an Camael und Idriel, betete, dass es ihnen gut ging. Nicht nur sie und Asriel hatten in diesem Krieg einiges zu verlieren. Es ging um so viel mehr, als nur den Weg zurück nach Hause zu finden. 

Lizzie hob angestrengt den Kopf, sah die Zerstörung, die Azrael und seine Wölfe angerichtet hatten. Das war nicht notwendig, schoss es ihr durch den Kopf. Sie konnte nicht so viel Bedeutung haben, dass man eine ganze Stadt dafür in Schutt und Asche legte. 

„Geht!“, forderte Michaels Stimme sie auf. „Lizzie, ihr müsst gehen, hörst du mich? Ich werde euch so viel Zeit verschaffen, wie ich kann!“ Er schüttelte sie mit einer Hand an der Schulter, seine grünen Augen blickten in ihre. „Schick Asriel endlich zur Hölle!“, forderte er grimmig, wehrte mit einer Handbewegung einen Angriff ab. „Los doch! Verschwinde endlich, nimm Sam mit!“ 

Wie in Trance sah Lizzie zu, wie Azrael aus dem Rauch trat. Er hatte sie gefunden. Und der Einzige, der zwischen ihr und dem Himmelsherrscher stand, war Michael. 

*

„Lizzie, lauf!“ Das Feuer in Michael brodelte, strebte an die Oberfläche. Es war lange her, seit er seine Kräfte derart angestrengt hatte, nun forderten sie ihren Tribut. Sie verlangten die Herrschaft über Michaels Körper und Verstand, strömten heiß unter seiner Haut und feuerten sein Herz an. „Bring Sam hier weg!“ 

Sam brauchte ihre Hilfe, ohne sie würde er es nicht schaffen. Sobald er wieder bei Verstand war, würden sie beide einen Weg nach Hause finden. Wenn Sam sie hier gefunden hatte, dann konnte er sie auch wieder zurückbringen. Zurück in ihre eigene Welt, fort von diesem Wahnsinn. 

Asriel hatte recht gehabt mit dem, was sie damals am Fluss zu ihm gesagt hatte: Nur um Sam und Lizzie war es die ganze Zeit gegangen. Michael spielte in diesem Krieg keine Rolle, auf ihn kam es nicht an. 

Durch den Rauch der Stadt schritt Azrael auf sie zu. Als er Michael sah, runzelte er die Stirn, machte jedoch keine Anstalten, seine Magie zu rufen oder seinen Schritt zu verlangsamen. 

Michael stach sein Schwert in die Erde. In einem Kampf gegen seinen Vater würde ihm diese Waffe nichts bringen, er brauchte seine Magie. 

Schützend stellte er sich vor Lizzie und Sam. Wieso waren sie noch immer hier, wieso liefen sie nicht endlich fort? Wussten sie denn nicht, dass es nur auf sie ankam? Lizzies Auftauchen im Himmel, in seinem Leben, hatte alles verändert. Was ein einfacher Auftrag hätte werden sollen, in dem er Lizzie zum Himmelsgericht brachte, hatte sich zu etwas Persönlichem entwickelt. Zu einer Familiensache. 

Doch für den Himmelsherrscher schien Familie genauso wenig eine Bedeutung zu haben wie für Asriel. Sie hätte Michael sterben lassen, als die Wölfe ihm und Lizzie am Fluss aufgelauert hatten. So, wie Azrael ihn jetzt töten würde, und dann Lizzie. Er würde sie am Weltenbaum opfern, als Zeichen für die Engel. In seinen Augen war sie nur ein Mensch, der ihm im Weg stand. Azrael wollte nur Asriel, damit es niemanden mehr gab, der ihn in seinem Wahnsinn aufhalten konnte. 

Michael konnte und wollte nicht zulassen, dass Lizzie seinem Vater zum Opfer fiel. Azrael und Asriel hatten bereits genug Schaden angerichtet. Lizzie war die Einzige von ihnen, die unbeschadet aufgewachsen war, ohne Ahnung davon, in welche Familie sie hineingeboren worden war. Es war ihre freie, unvoreingenommene Seele, auf die Asriel es abgesehen hatte. Aber weder sie noch Azrael würden diese Seele bekommen. 

Grimmig ballte Michael die Fäuste. Er griff tief in sein Innerstes, beschwor das Feuer und die Flammen, die er so lange unterdrückt hatte. Es war an der Zeit, sie zu neuem Leben zu erwecken. Selbst, wenn es ihn mehr als nur seine Kontrolle kosten würde. 

„Michael, nicht!“, rief Lizzie hinter ihm. Über die Schulter warf er ihr einen schnellen Blick zu. Sie hockte noch immer neben Sam, aber in ihre Augen kehrte langsam die grüne Farbe zurück. 

Neben ihr barst die Erde auseinander, doch sie schien es nicht einmal zu bemerken. Auch dann nicht, als die Gesteinsbrocken ihr die Haut aufrissen, Blut ihre Wange hinunterlief. Ihr Blick ruhte einzig und allein auf Michael, als wüsste sie, was in ihm vorging. 

Er hoffte nur, dass sie ihn nicht vergessen würde. Eines Tages würde sie es vielleicht verstehen. 

Michael biss sich auf die Lippe, wandte sich wieder Azrael zu. Er sammelte seine Kräfte, die Flammen um seine Hand zuckten höher. Dennoch wusste er, dass er diesen Kampf nicht überleben würde, er spürte es in jeder einzelnen Faser seines Körpers. So oft war er in den letzten Tagen dem Tod entronnen, dieses Mal würde ihm das nicht gelingen. 

Er griff an. 

Die Flammen stürzten wie eine hungrige Meute von Hunden auf den Himmelsherrscher zu. Aber Azrael wischte den Angriff mit einer Hand zur Seite, als hätte er keinerlei Bedeutung. Entsetzt wich Michael einen Schritt zurück, taumelte. 

„Nach all den Jahren, Michael?“, erkundigte sich Azrael leise. „Entscheidest du dich jetzt doch gegen mich?“ 

„Das war schon lange überfällig.“ Michael sammelte sich für einen weiteren Angriff. Das Feuer knisterte in seinen Händen, verlangte zischend nach einem Opfer. 

Azrael schüttelte den Kopf. „Das solltest du nicht tun. In diesem Krieg geht es nicht um dich, Michael.“ Fast schon bedauernd sah er ihn an. In seinen Händen beschwor er einen Wirbelsturm. 

„Ich habe es satt, dass mir das ständig alle sagen!“, erwiderte Michael und schickte im selben Moment wie Azrael seine Magie los. 

Die beiden Elemente stürmten aufeinander zu. Azraels Wind schoss durch das Feuer hindurch, ließ es zischend hinter sich zurück. Michael stieß einen Fluch aus, rief erneut nach dem Feuer und stemmte sich gegen den Wind. 

„Lizzie!“, brüllte Sam. 

Michael fuhr herum. Das Letzte, was er sah, war Lizzies Gestalt, die sich zwischen ihn und seinen Vater stellte. 

Dann erschütterte die Explosion die gesamte Stadt, als Azraels donnernde Magie sein Ziel traf.

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