Himmel

„Himmel“ ist der zweite Band meiner „Schattenengel“ Reihe und knüpft nahtlos an den ersten Band 1.

01 Erde

02 Himmel

03 Paradies

04 Fimbulwinter

05 Weltenbrand

Klappentext

»Alles okay«, wehrte Lizzie ihn heiser ab und wischte sich mit dem Handrücken das Blut von den Lippen. »Du stirbst«, sagte er leise. Nichts daran war okay.

Nachdem Lizzie beim Einsturz des Engelsgerichtes nur knapp mit dem Leben davongekommen ist, sucht sie nun verzweifelt einen Weg zurück nach Hause. Zur Seite steht ihr dabei der Erzengel Michael, aber dessen Loyalität galt bis vor Kurzem noch seinem Vater Azrael. Inmitten der Angst um das Schicksal der Welt und ihre eigene Zukunft weiß Lizzie nicht, ob sie ihm trauen kann. Schließlich ist nicht nur Azrael auf der Jagd nach ihr … Während zur selben Zeit auf der Erde der Engelsrat einberufen wird, hat auch Sam einen Weg in den Himmel gefunden. Vor den Augen der Engel verborgen ist er bereit, alles für Lizzies Rettung zu tun. Doch bald muss er feststellen, dass der einzig wahre Feind die Zeit ist. Denn bald wird der Engel in Lizzies Inneren ihre Seele vollends kontrollieren – und das bedeutet ihren Tod.

Leseprobe

  1. Engelsstadt

„You’ll never have to feel so alone
Let me bring you back to the world, back home
Let me mend your broken soul“

The Shires – Brave

Wieder diese dämlichen Tore“, knurrte Sam, schlug mit seiner Faust gegen die
goldenen Himmelstüren. Es konnte zwar nur ein Traum sein, dennoch war er wütend.
Ohne diese Tore, ohne Asriel, wäre er nicht hier. Ohne sie müsste er jetzt nicht im
Himmel nach Lizzie suchen.
Sam verschränkte die Arme vor der Brust. Mit funkelndem Blick starrte er die
verschlungenen Verzierungen an, die sich über beide Torseiten zogen, als könnten sie
seiner Wut etwas entgegensetzen. Doch stumm verharrten sie in ihrer Position.
Rechts und links standen an den Seiten der Tore zwei Löwen, die Klauen hoch zum
Schlag erhoben. Sie schienen das beschützen zu wollen, was hinter den Himmelstoren
lag. Doch je länger Sam diese Türen anstarrte, desto mehr hatte er das Gefühl, dass sie
besser vor dem, was dahinter lag, beschützt werden sollten, nicht umgekehrt. Er konnte
sich noch daran erinnern, wie Lizzie ihm von ihren Träumen erzählt hatte. Welche Angst
sie empfunden hatte. Selbst bei Tag hatte sie die Furcht nie ganz abschütteln können, es
war stets ein bitterer Nachgeschmack vorhanden gewesen. Auch Sam konnte es nun
spüren, obwohl es das erste Mal war, dass er von den Himmelstoren träumte. Aber etwas
lag hinter diesen Toren, was ihn und seine Reaktionen aufmerksam zu beobachten schien.
Es lauerte auf jede Bewegung von ihm, sprungbereit. Sobald er einen falschen Zug
machte, würde das sein Untergang sein.
Tief atmete Sam ein. Vielleicht wäre es sicherer, wenn man diese Tore für immer
verschlossen hielt. Wenn man sie einfach niederbrannte, selbst wenn dann nie wieder
jemand in den Himmel hinein- oder herausgelangen konnte. Es war besser, als weiter mit
dieser unsichtbaren Bedrohung im Nacken leben zu müssen. Es reichte, dass sie sich mit
Azrael auseinandersetzen mussten.
Kopfschüttelnd wandte er sich um. Er verspürte keine große Lust dazu, den Rest dieses
merkwürdigen Traumes vor den Himmelstoren zu verbringen. Es war sein Traum, er
bestimmte selbst, wie es weiterging. Wo er hinging, wen er dort traf.
Lizzie.
Sam schloss die Augen, lächelte. Ihr Name war in seinem Kopf, ohne dass er einen
weiteren Gedanken darauf verwenden musste. Lizzie war alles, was er wollte. Sie fehlte
ihm so sehr, dass es ihn beinahe mehr in den Wahnsinn trieb, als die Dunkelheit selbst.
Er brauchte Lizzie, nur sie hielt ihn davon ab, vollständig den Verstand zu verlieren.
Aber es war mehr als nur das.
Er fühlte sich, als würde ihm ein Teil seiner selbst fehlen. Ein wichtiger,
lebensnotwendiger Teil seiner Seele, ohne den er nicht sein konnte.
All die Jahre, die er gegen die Wölfe gekämpft und für die Dämonen da gewesen war,
hatte er versucht, sich von Lizzie fernzuhalten. Sich auf ein Leben einzustellen, in dem sie
nicht vorkam. Lizzie hätte niemals Teil dieser Welt werden sollen, teil der Gefahren, die
ihn tagtäglich begleiteten. Doch er hatte sich nie wirklich von ihr lösen können. Lizzie
zog ihn an, als wären sie zwei Planeten, die unaufhörlich umeinander kreisten. Sie hatte
eine Anziehungskraft, der er sich nicht entziehen konnte. Und wenn er ehrlich war, dann
wollte er das auch nicht. Lieber geriet er Tag für Tag in lebensbedrohliche Kämpfe, als
sich auch nur einen weiteren Moment von ihr entfernt aufzuhalten. Es war an der Zeit, zu
ihr zurückzukommen.
Vor allem aber war es an der Zeit, ihr endlich das zu sagen, wofür ihm bisher der Mut
gefehlt hatte. Wenn er ihr hatte sagen können, dass er ein Dämon war, wieso fiel ihm
dann das andere so schwer? Im Prinzip war es klar, was in ihm vorging. Alles, was er
jetzt noch tun musste war, es Lizzie von Angesicht zu Angesicht zu sagen. Aber dafür
musste er sie erst einmal finden.

Sam wachte auf, atmete tief ein. Er schüttelte den Kopf, sah hoch in den Himmel und
fuhr sich mit einer Hand durch das verstrubbelte Haar. Die ersten Strahlen der Sonne
beschienen seinen Platz am See, versuchten, ihn zu wärmen. Doch es war zwecklos, sie
konnten die Kälte aus seinem Körper nicht vollständig vertreiben. Und das lag nicht nur
daran, dass seine Nacht furchtbar gewesen war. Vermutlich war er gerade noch
rechtzeitig aufgewacht, bevor er sich in dieser Illusion hatte verlieren können. Im
Augenblick erschien ihm jeder Traum von Lizzie besser, als eine Realität ohne sie.
Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass das immerhin nur ein Traum gewesen war. Zwar
hatte er sich erschreckend real angefühlt, besonders was die Ausstrahlung der
Himmelstore anging, aber trotz allem war es nur ein Traum gewesen. Die Tore waren
noch weit entfernt, es gab keinen Grund, sich um sie zu sorgen. Was er dagegen nicht
abschütteln konnte, war die Gewissheit des Siegels im Nacken.
Seufzend richtete er sich auf, streckte sich und knackte mit den Fingerknöcheln. Azraels
Siegel war im Himmel viel deutlicher zu spüren, als er es erwartet hatte. Er konnte
fühlen, dass sein Zugang zu den Schatten eingeschränkt war. Es kostete ihn wesentlich
mehr Mühe, sie zu beschwören, als wären sie weiter voneinander entfernt. Probeweise
bewegte Sam die Finger, rief stumm nach den Schatten, die sich am Berghang
versteckten. Sie kamen zu ihm, aber nur langsam, widerwillig. Zähflüssig krochen sie
über den Boden auf ihn zu, sträubten sich gegen seinen Ruf.
Er ballte die Fäuste, entließ die Schatten ruckartig aus seinem Griff und wandte sich ab.
Das erschwerte die Aufgabe, Lizzie zu finden, natürlich erheblich. Wäre er im vollen
Besitz seiner Kräfte gewesen, hätte er sich um Himmelswölfe oder die anderen Engel
keine Sorgen machen müssen. Es wäre viel leichter gewesen, Lizzie mithilfe der Schatten
aus den Fängen Azraels und damit aus dem Himmelsgericht zu befreien. Nun aber war
selbst er eingeschränkt.
Zum ersten Mal war Sam froh darüber, dass nicht nur Raphael, sondern auch die
Höllenfürsten ihn trainiert hatten. All die harten Stunden, der Schweiß und das viele Blut,
das er vergossen hatte, würde sich hier hoffentlich bewährt machen. Im Moment war er
darauf angewiesen. Dennoch war ihm klar, dass es nicht einfach werden würde. Die
Himmelswölfe waren dafür trainiert worden, Dämonen auszuschalten. Solange er nicht so
einfach wie gewohnt auf seine Kräfte zurückgreifen konnte, war er wie ein gewöhnlicher
Mensch. Und damit beinahe schon leichte Beute. Es war wohl das erste Mal, dass er seine
Kräfte tatsächlich vermisste. Ohne die ständige Anwesenheit der Schatten fühlte er sich
plötzlich verletzlich. Angreifbar.
Er wandte sich um, ging auf den schmalen Weg zu, der den Berg hinunterführte. Er
wollte keine Zeit mehr verlieren, Lizzie befand sich bereits seit einigen Stunden im
Himmel. Ihre Wunden schienen zwar geheilt worden zu sein, aber er wollte es nicht drauf
ankommen lassen. Was war in der Zwischenzeit passiert? War sie bereits zum Gericht
gebracht oder möglicherweise schon verurteilt worden? Bei dem Gedanken daran ballte
Sam die Fäuste. Er würde sie so schnell wie möglich wieder nach Hause bringen, der
Himmel war kein Ort für sie. Schon gar nicht, wenn Asriel in dem ganzen Szenario
mitspielte. Bald würden sie wieder zu Hause sein. Dort würden sie einen Weg finden, mit
den Ereignissen fertigzuwerden. Vielleicht konnten sie eines Tages auf diese Erfahrungen
zurückblicken und diese Zeit belächeln. Eines Tages würde all das hier vorbei sein, und
sie konnten wieder ein ganz gewöhnliches Leben führen.
Mit bedächtigen Schritten folgte Sam dem Weg. Hinter ihm ging die Sonne weiter auf,
beschien mit ihren tastenden Strahlen die weiße Stadt vor ihm. Sie lag nicht weit entfernt,
vielleicht noch eine halbe Stunde Fußmarsch. Aus der Ferne, hoch oben auf dem Berg,
hatten die Häuser größer gewirkt, bedrohlicher. Nun waren sie nur noch wenige Minuten
entfernt, hatten einiges von ihrem Ehrfurcht gebietendem Glanz eingebüßt. Hoffentlich
fand er dort auch das Himmelsgericht. Bisher konnte Sam es allerdings noch nicht
entdecken. Jedenfalls kein Gebäude, das auch nur entfernt den Erzählungen Gabriels
ähnelte. Doch selbst von hier aus sah er Gestalten, die sich zwischen den Häusern
bewegten. Einer der Vorteile an Azraels Siegel war der, dass niemand den Himmel
verlassen konnte. Keiner der Engel hier kannte Sam. Der Einzige, vor dem er sich in Acht
nehmen musste, war der Herrscher des Himmels selbst. Azrael würde ihn
wiedererkennen, daran bestand kein Zweifel, besonders nach der Begegnung bei
Raphaels Haus. Asriel würde ihn ebenfalls nicht vergessen haben.
Bei der Erinnerung an die kalten, grauen Augen, die ihm aus Lizzies Gesicht
entgegengestarrt hatten, ballte Sam die Fäuste. Was hatte ihr der Engel in der
Zwischenzeit angetan? Es war klar, dass sie den Pakt mit Lizzie nicht aus reiner
Herzensgüte eingegangen war, aber mehr wussten sie nicht. Sobald sie zurück auf der
Erde waren, würden sie einen Weg finden müssen, Asriel aus Lizzies Körper zu
vertreiben. Oder ihre Seele zumindest so weit zu versiegeln, dass sie keinen Schaden
mehr anrichten konnte. Wenn man eine ganze Welt abriegeln konnte, musste das auch
mit einer Engelsseele möglich sein. Es war Raphael schon einmal gelungen, Asriels Seele
von ihrem Körper zu lösen. Wenn einer einen Weg fand, das erneut zu schaffen, und
damit Lizzies Leben zu retten, dann war es Raphael.
Sams Schritt wurde schneller. Möglicherweise war Lizzie noch hier, vielleicht würde er
sie gerade noch rechtzeitig finden, bevor sie zum Gericht gebracht wurde. Sie muss
einfach hier sein, betete er. Alles, was er tun musste, war das Gerichtsgebäude zu finden,
von dem Gabriel erzählt hatte. So schwer konnte das nicht sein, und dann würde er sich
Lizzie schnappen; irgendwie mit ihr aus dem Himmel verschwinden, auch wenn er noch
nicht genau wusste, wie er das anstellen sollte. Vielleicht ergab sich am Weltenbaum eine
Möglichkeit dazu. Da Gabbs und Azrael ein Portal öffnen konnten, konnte er es
möglicherweise auch. Allerdings wüsste er nicht einmal, wo er beginnen sollte. Doch
wenn es möglich war, dann nur dort, wo die Grenzen zwischen den Welten am dünnsten
waren. Kein Ort eignete sich dafür besser als der Weltenbaum.
Es kommt auf einen Versuch an. Immerhin hatte er nichts mehr zu verlieren, Azrael hatte
ihm bereits alles genommen. Nun ging es nur noch darum, die Verhältnisse wieder
geradezurücken, möglichst noch bevor Azrael mitbekam, dass sich Luzifers Erbe im
Himmel aufhielt. Er würde nicht begeistert über die Tatsache sein, dass jemand einen
Weg gefunden hatte, sein Siegel zu umgehen. Sam hoffte, dass Gabbs auf der Erde
deswegen nicht in allzu große Schwierigkeiten geraten würde. Lizzies Tante war mehr als
nur in der Lage, sich selbst zu verteidigen, das wusste er. Aber Dämonen auszuschalten,
die unvorsichtig waren, und kriegerischen Himmelswölfen zu entkommen, waren zwei
völlig verschiedene Dinge. Doch vielleicht sollte er sich lieber Sorgen um das machen,
was ihm selbst bevorstand.
Er ballte die Fäuste. Was, wenn die Engel ihn dennoch erkennen würden? Er war ein
Fremder an einem Ort, an dem es keine Fremden gab. Wenn er etwas um jeden Preis
vermeiden wollte, dann war es Aufmerksamkeit. Jedenfalls bis zu dem Punkt, an dem er
Lizzie fand. Danach war ihm alles egal. Notfalls würde er den ganzen Himmel unter
seinen Schatten begraben, selbst wenn es ihn den Rest seiner Kontrolle kosten sollte.
Doch bis dahin hing von Asriels Kette, die Gabriel ihm mitgegeben hatte, sehr viel ab.
Sam hasste den Gedanken, von etwas abhängig zu sein, was einst Asriel gehört hatte.
Selbst wenn sie jahrelang von Gabriel getragen worden war, ohne dass etwas geschehen
war. Wer wusste schon, ob diese Kette einen tatsächlich nur vor den Blicken der Engel
verbarg, vielleicht richtete sie noch viel mehr an. Besonders jetzt, wo Asriel wieder da
war. Sams Erfahrungen mit freundlicher Magie hielten sich bisher in Grenzen. Aber er
hatte keine andere Wahl, als es drauf ankommen zu lassen. So lange er konnte, musste er
unerkannt durch den Himmel gelangen. Wenn er sich nicht als Dämon zu erkennen gab,
wenn niemand bemerkte, dass er Luzifers Erbe war, hatten er und Lizzie eine Chance.
Nur darauf kam es an.
Sam trat tief einatmend zwischen die weißen Häuser der Engelsstadt und sah sich um.
Insgeheim hatte er erwartet, dass zumindest etwas aus den Erzählungen Raphaels den
Wahn von Azrael überlebt hatte. Sam konnte sich gut an die schillernden Geschichten
erinnern, die Lizzies Vater ihm erzählt hatte. Wenn Raphael von seiner einstigen Heimat
berichtete, war es, als würde die gesamte Umgebung lebendig werden. Sehnsucht stahl
sich in die Augen des Windengels, ein leises Lächeln lag auf seinen Lippen. Immer dann,
wenn er erzählte, wie er als Kind frei und ungebunden durch den Himmel gestreift war.
Raphael war dem Wind durch tiefe Schluchten hindurch gefolgt, hatte sich auf den
Gipfeln der höchsten Bäume aufgehalten und dem Flüstern gelauscht. Hatte andächtig
allen Geschichten zugehört, die der Wind ihm erzählte. Als würde die Luft ihn zu sich
locken, während sie den gesamten Himmel erfüllte, ihm Dinge aus der Ferne mitbrachte.
Lachen, Düfte und Erlebnisse, all das war verborgen in den Wellen des Sturms, im
Wispern der Morgenbrise und in dem sich aufbäumenden Gewitter.
Seit Sam ein kleiner Junge war, seit er die Geschichten Raphaels kannte, hatte er sich so
den Himmel vorgestellt. Als einen Ort voller Leben und Geheimnisse, verborgener
Winkel, die nur der Wind kannte. Magie, die durch die Luft tanzte, eine Welt, in der man
sich nicht verstecken musste.
Etwas so Trostloses wie das hier hatte er sich trotz Gabriels Warnungen sicher nicht
vorgestellt.
Selbst der Marktplatz mit dem weißen, plätschernden Springbrunnen wirkte starr, als
wäre er aus einer Form gegossen worden. Der marmorne Löwe mit der erhobenen
Pranke, unter dem das Wasser hervorfloss, war erstarrt, festgehalten in der Zeit. Weit und
breit war keine Pflanze zu sehen, oder eine andere Farbe, als dieses monotone Weiß.
Irritiert blieb Sam stehen. Wie hatte sich der Himmel so sehr verändern können?
Die einzigen Farbkleckse waren die Engel, die stumm durch die Stadt gingen, mit
gesenktem Kopf, als befürchteten sie, angesprochen zu werden oder Aufmerksamkeit zu
erregen. Die Himmelswölfe zwischen ihnen überragten die gewöhnlichen Engel um gut
zwei Köpfe. Ihre Haltung war viel strenger, sie waren sich völlig dessen bewusst, dass sie
Azraels Ehrengarde darstellten. Keiner wagte es, sich ihnen entgegenzustellen. Die
meisten Engel wichen ihren suchenden Blicken aus. Niemand wollte freiwillig in den
Fokus von Azraels Kriegern geraten.
Gerade Reihen von hellen Gebäuden gingen von dem runden Platz aus, mathematisch
durchdacht und perfekt ausgeführt. Kein noch so kleines Detail war außer Acht gelassen.
Alles fügte sich nahtlos ineinander. Nicht einmal die weißen Säulen mit den Gaslaternen
wirkten fehl am Platz, kein Stein stand am falschen Ort. So etwas hätte die Akribie der
Engel niemals geduldet. Genauso wenig, wie Azrael den Einsatz von Magie duldete.
Sam hatte die Gerüchte gehört, aber die Abwesenheit der Elemente war in dieser Stadt
überall spürbar. Keiner der Engel zeigte Flügel, niemand setzte seine Kräfte ein. Es gab
kein Lachen, kein Leben. Nur Angst und Regeln, die keiner brechen durfte. Die Engel
wirkten verstört, aber ansonsten völlig normal.
Wie konnte man an einem Ort wie diesem leben? Derart eingezwängt und in Form
gepresst?
Sam musste an Raphaels Haus denken, diesen fröhlichen Farbtupfer voller Leben mitten
im Wald. An Raphaels freundliches Lächeln, das in seinen blauen Augen aufblitzte, die
Lebensfreude, die er Sam und Lizzie stets gelehrt hatte. Raphael hatte ihnen beigebracht,
dass nichts unmöglich war, solange man einander hatte. Sam dachte an Gabriel, die
Musik so sehr liebte, dass sie stets um sie her erklang. Manchmal summte sie leise, nur
um die Stille zu vertreiben. Sie hatte mit einer überraschend hellen und klaren Stimme
gesungen, voller Sehnsucht nach einem fernen Ort, den sie niemals wiedersehen würde.
In zahllosen Nächten hatte sie Lizzie in den Schlaf begleitet, als diese noch klein war.
Sam verstand nun mit jedem Moment mehr, warum die beiden Geschwister geflohen
waren. Weder Gabriel noch Raphael konnten sich hier wohlgefühlt haben. Sie schienen
nicht zu diesem Ort zu gehören. Wie all die anderen Wunder wären sie im Himmel
untergegangen.
Es war, als würde ein unsichtbarer Druck auf ihm lasten, abseits vom Siegel. Dabei hatte
er die Stadt gerade erst betreten. Wie musste es erst sein, wenn man hier aufwuchs? War
das auch vor Azrael schon so gewesen?
Keiner der Engel, die Sam auf der Straße begegneten, sah glücklich aus. Alle strebten
eilig in ihre Häuser, verschlossen die Tür. Sie schienen vor dem zu flüchten, was die
Straße herab auf sie zukam. Kopfschüttelnd ging Sam weiter. An diesem Ort gab es
nichts, was ihm Angst machen konnte. Er musste nur Lizzie finden, das war alles.
Zumindest schien ihn niemand als Dämon zu erkennen, bemerkte er erleichtert. Was
bedeutete, dass Gabriels Kette funktionierte. Das gab ihm Hoffnung. Dennoch blieb er
auf der Hut. Nachdem, was er von Asriel gesehen hatte, würde er diesem Engel rein gar
nichts anvertrauen. Am wenigsten sein eigenes Leben.
Sam schüttelte den Kopf und begegnete dem Blick eines Engels, der ihn von der anderen
Straßenseite mit hochgezogenen Brauen musterte. Besonders seine Kleidung. In Shirt und
Jeans wirkte Sam neben den Himmelsbewohnern in ihren weißen Hemden tatsächlich
deplatziert. Er sollte sich so bald wie möglich anpassen. Das fehlte ihm gerade noch, dass
er wegen eines Verstoßes gegen die hiesige Kleideretikette mit den Wölfen
aneinandergeriet.
Sam lächelte den Engel spöttisch an, der sich abwandte und rasch wieder den Kopf
senkte.
Wenn er sich die Anwohner dieser Stadt so ansah, wirkten die vielen Geschichten über
die furchterregenden Krieger geradezu lächerlich. Wölfe waren eine ernst zu nehmende
Bedrohung, das stand außer Frage, aber Engel?
In den Erzählungen, die unter den Dämonen kursierten, waren Engel mutige, leuchtende
Gestalten. Wie Götter gleich fuhren sie vom Himmel, töteten alles und jeden, der gegen
ihre Regeln verstieß. Allen voran Michael, der einst ein Ehrfurcht gebietender Krieger
gewesen sein soll. Glaubte man den Geschichten, stand er seinem Bruder Luzifer in
nichts nach. Er kämpfte sich wie ein Titan durch die Dämonen, stets auf der Suche nach
dem Kampf, den Luzifer ihm damals verwehrt hatte. Michaels feuerroter Schopf war
schon von Weitem zu erkennen, jeder Dämon fürchtete sich vor ihm und den Engeln, die
dem Feuerelementar folgten.
Doch diese Engel aus den Legenden hatten absolut nichts mit dem traurigen Haufen
gemein, der hier an ihm vorbei ging. Einige der Engel wirkten einsam und regelrecht
verloren, als hätten sie sich mit ihrem Schicksal unter Azraels Herrschaft abgefunden.
Falls es tatsächlich noch so etwas wie einen Widerstand gab, dann sicherlich nicht in
dieser Stadt. Es gab hier niemanden, der sich dem Himmelsherrscher widersetzte.
Was für deprimierende Aussichten.
Aber Sam blieb keine Zeit für weitere Betrachtungen über die Engel. Er musste das
Himmelsgericht finden, und damit auch Lizzie. Das war jetzt das einzig Wichtige, bevor
das Urteil vollstreckt wurde, das Azrael im Sinn hatte.
Sam schloss die Augen, konzentrierte sich auf Lizzie. Irgendwo hier musste sie sein.
Er vertraute seinem Instinkt, ließ sich von seinem Gefühl leiten. Schon als sie noch klein
waren, hatte ihn dies stets zu ihr geführt, als wären sie über ein unsichtbares Band
miteinander verbunden. Diese Fähigkeit würde ihn im Himmel nicht im Stich lassen,
Siegel hin oder her. In einem Leben, das schon lange zurücklag, hatte er ihr an ihrem
Geburtstag versprochen, dass er sie überall und jederzeit finden würde.
Sam wandte sich nach rechts, ging gedankenverloren die Straße entlang, die links und
rechts von weißen Säulen gesäumt war. Er folgte einem Gefühl, dass er nicht erklären
konnte, aber das ihn noch nie in die Irre geführt hatte.
Das penetrante Weiß der Stadt reizte ihn, dieser billige Versuch, Azraels
Schreckensherrschaft zu kaschieren. Am liebsten würde er diesen Ort
auseinandernehmen, Stein für Stein, die Fassade herunterreißen und die Engel anbrüllen,
sich das nicht länger gefallen zu lassen. Sie ließen zu, dass über ein junges Mädchen
gerichtet wurde, dessen Namen sie nicht einmal kannten. Lizzie hatte für sie keine
Bedeutung, höchstens die Seele, die sie noch in sich trug. Was mit ihrer eigentlichen
Seele geschah, mit ihrem Körper, interessierte niemanden.
Genauso wenig sollte Sam sich für die Probleme der Engel interessieren, sie gingen ihn
nicht das Geringste an. Es konnte ihm egal sein, ob die Engel sich mit Azrael wohlfühlten
oder nicht. Was spielte es für eine Rolle, was hier oben im Himmel geschah? Er konnte
nichts dagegen tun, selbst wenn er es wollte. Er durfte nicht auffallen. Sobald er seine
Kräfte rief, würde jedem klar sein, wer er war. Nur zu gut erinnerten sich die Engel an
Luzifers verheerende, wenn auch beeindruckende Kraft, selbst hier oben. Besonders
Michael wäre interessiert daran, den Erben Luzifers in die Finger zu bekommen,
immerhin gab es noch eine alte Rechnung zu begleichen.
Sam blieb stehen, als ihn etwas an der Säule vor ihm aus seinen Gedanken riss. Es war
etwas, das dort nicht hingehörte; etwas, das nicht Teil dieser Welt war.
Ein Zettel hing an dem weißen Stein. Die untere linke Ecke löste sich bereits, wehte
leicht im sanften Wind, als riefe sie Sam zu sich. Er erstarrte, ihm lief ein Schauder über
den Rücken.
Achtung!, stand in großen, dicken Buchstaben über dem Bild von Lizzie.
Plötzlich spielten die Engel und diese Stadt keine Rolle mehr, waren einfach
ausgeblendet. Nur dieses Bild zählte. Das hier war im Himmel das erste Zeichen von ihr.
Ein Beweis dafür, dass Lizzie tatsächlich hier war, dass sie noch lebte und sein Gefühl
ihn nicht getrogen hatte.
Mit zitternden Fingerspitzen strich Sam über ihr erschrocken aussehendes Gesicht. Lizzie
hatte einen blutigen Kratzer auf der Wange. Sie wandte sich halb dem Betrachter zu, als
würde sie einen Blick über ihre Schulter werfen. Das Foto musste im Himmel
aufgenommen worden sein, Sam kannte es nicht. Lizzie hasste Fotos von sich ohnehin,
das hatte sie immer getan. Dieses Bild musste ohne ihr Wissen aufgenommen worden
sein, wie das damals bei dem Grillfest. Instinktiv griff er an seine hintere Hosentasche
und fühlte das vertraute Gewicht seiner Brieftasche. Ihr Foto war noch bei ihm.
Erleichtert lächelte er.
Sie hatten in dem Garten hinterm Haus ein Lagerfeuer angezündet, zu dem viele
Arbeitskollegen von Raphael gekommen waren. Und natürlich auch Gabriel, die
fotografiert hatte. Dafür hatte sie wirklich Talent. Die besten Bilder von Lizzie waren
stets die gewesen, bei denen sie sich unbeobachtet gefühlt hatte. Gabriel schien zu
spüren, wann dies der Fall war – und wann Lizzie argwöhnisch nach jemandem mit
Kamera Ausschau hielt.
Auf einem der Aufnahmen saß er neben Lizzie. Es war eines der wenigen Male gewesen,
in denen er sich vor seinen Pflichten als Luzifers Erbe drücken und einfach nur Sam hatte
sein können. Er hatte Lizzie von seinem Lieblingsbuch erzählt, woraufhin sie in lautes
Lachen ausbrach. Diesen Moment hatte Gabriel eingefangen, hatte Lizzies herzhaftes
Lachen und ihre geröteten Wangen für die Ewigkeit festgehalten.
Seitdem trug Sam das Foto bei sich. Wo auch immer er sich mit den Himmelswölfen
angelegt hatte, in welchen Schwierigkeiten er auch steckte – das Bild von Lizzie war stets
dabei. Sam war sich des Risikos bewusst gewesen, denn sollten die Himmelswölfe dieses
Foto finden, wüssten sie von Lizzies Existenz. Sam brachte sie damit in Gefahr. Aber er
brauchte auch etwas Sichtbares, das sie miteinander verband, abseits der Armbänder,
abseits des Versprechens. Er brauchte einen Beweis dafür, dass es ein normales Leben für
ihn gab, so weit entfernt dies auch sein sollte. Einen Beweis dafür, dass es jemanden gab,
mit dem er lachen konnte, jemand, der auf ihn wartete und sich Sorgen machte. Jemand,
zu dem er zurückkehren musste.
Auf dem Bild an der Säule wandte Lizzie Sam den Kopf zu. Einzelne, erdbraune
Haarsträhnen flogen ihr ins Gesicht. Was hatte sie so erschreckt? Wenn vor ihr gewarnt
wurde und man sie suchte, musste sie entkommen sein. Das wären gute Neuigkeiten, zum
ersten Mal seit diesem ganzen Chaos. Ein Funken Hoffnung.
Für diesen Augenblick zumindest konnte Azrael ihr nichts tun, stellte er erleichtert fest.
Das war mehr, als er gehofft hatte.
„Hey, was tust du da?“
Sam zuckte zusammen und drehte sich um. Ein Himmelswolf blickte grimmig auf ihn
herab.
Er fluchte stumm. Großartig, das hatte ihm gerade noch gefehlt. So viel dazu, dass er
nicht auffallen durfte. Kaum war er in dieser Stadt, schon fanden ihn die Himmelswölfe.
Konnten sie möglicherweise über Asriels Kette hinweg erkennen, dass er kein Engel
war?
„Ich habe mir dieses Fahndungsplakat angesehen“, erwiderte er so ruhig wie möglich,
und sah sich unauffällig um. Es waren zu viele Engel auf den Straßen unterwegs. Ohne
Aufsehen zu erregen, würde er diesen Himmelskrieger nicht wie gewohnt ausschalten
können, obwohl es ihm in den Fingern juckte. Jede Begegnung kostete Zeit, die weder er
noch Lizzie hatten. Wo steckte sie? Ging es ihr gut? War sie verletzt, brauchte sie Hilfe?
Sie konnte einen wahrhaftig in den Wahnsinn treiben. Besonders dann, wenn er nicht
wusste, wie es ihr ging. Irgendwie musste er sie finden.
„Hast du sie gesehen?“ Fordernd klopfte der Krieger gegen das Plakat, stand jetzt noch
dichter vor ihm. Er blinzelte irritiert, als Sam nicht zurückwich.
Sam biss sich auf die Lippen, unterdrückte den Impuls, sich auf den Wolf zu stürzen und
dessen Hand von Lizzies Foto zu reißen.
„Nein“ antwortete er leise. Er ballte die Fäuste und ermahnte sich, vorsichtig zu sein. Er
durfte nicht auffallen, nicht, bevor er Lizzie nicht gefunden hatte. Der Tag, an dem die
Himmelswölfe für ihre Taten bezahlen mussten, würde kommen. Nur würde das nicht
heute sein. „Ich frage mich nur, weswegen sie gesucht wird“, ergänzte Sam. „Auf dem
Bild wirkt das Mädchen nicht sehr gefährlich.“ Eher verängstigt. Was hatten diese Engel
ihr angetan? Wo zum Henker steckte sie? Wie sollte Sam sie ohne Anhaltspunkt finden?
Der Himmelswolf schnaubte. „Natürlich sieht sie für dich nicht gefährlich aus. Typen wie
du könnten eine Gefahr oder einen Dämon nicht einmal dann erkennen, wenn er direkt
vor einem steht.“ Sein Blick war verächtlich, besonders als er Sams unwillkürliches
Schmunzeln bemerkte.
Scheinbar erkannte der Wolf ihn nicht. Sollte er wirklich solches Glück haben?
„Hast du etwa nicht mitbekommen, dass sie Asriels Verräterseele in sich trägt?!“
Sam öffnete den Mund, wollte etwas erwidern, aber da bemerkte er aus den
Augenwinkeln, wie ein weiterer Wolf auf sie zukam.
„Was ist hier los?!“ Der neue Himmelswolf hatte windzerzauste, schwarze Haare und
blassblauen Augen. Er war größer als der Wolf, der Sam zuerst angesprochen hatte.
Der Neuankömmling blinzelte verdutzt und runzelte die Stirn, als er Sam entdeckte.
Sam fuhr es eisig über den Rücken. Das konnte nicht sein. Wieso sah der Wolf ihn an, als
würde er ihn kennen?
Doch dann schüttelte der Schwarzhaarige den Kopf. „Du solltest lieber nach dem
Mädchen suchen, als dich zu unterhalten“, rügte er seinen Bruder und sah ihn belehrend
an. „Azrael sucht im ganzen Himmel nach ihr. Es wäre besser für dich, wenn du dich
dieser Suche anschließt.“
„Natürlich, Tychael.“ Der Himmelswolf senkte den Kopf. „Ich hatte nur gehofft, dass
dieser Junge hier Informationen über sie hätte. Er hatte das Plakat angesehen, als wäre sie
ihm bekannt.“
„Ist das so?“ Tychael zog die Augenbraue in die Höhe, sah Sam dabei jedoch nicht an.
„Nun, falls das so ist, dann kannst du darauf vertrauen, dass ich das selbst herausfinden
werde.“
Er hielt Sam mit seinem festen Blick gefangen, der unwillkürlich einen Schritt
zurückwich. Er hatte zwar keine Angst vor dem Wolf, wollte es aber auch bei ihm auf
keinen Kampf ankommen lassen. Selbst für seine Verhältnisse gab es hier zu viele
Gegner, er konnte nicht die ganze Stadt ausschalten. Schon gar nicht, ohne wie gewohnt
auf seine Schatten zurückgreife zu können. Und Tychael sah aus, als würde es kein
einfacher Kampf werden.
„Jetzt geh. Sucht das Mädchen!“, befahl dieser dem anderen mit einer Kopfbewegung.
„Ich kümmere mich um diesen Jungen.“ Er wies auf den Weg, den Sam gekommen war.
„Sie soll zuletzt beim Ehrendenkmal gesehen worden sein.“
„Sehr wohl.“ Der Wolf warf Sam noch einen vernichtenden Blick zu, als wollte er sagen,
dass dies nicht ihre letzte Begegnung sei. Dennoch fügte er sich und marschierte davon.
Mit hochgezogenen Augenbrauen wandte sich Tychael nun Sam zu. „Gehen wir. Da
entlang.“ Er deutete auf eine schmale Gasse, die von der Straße abging.
Sam atmete tief ein, dennoch ging er voran. Er konnte sich denken, was ihn erwarten
würde. In der Gasse würde es vielleicht einfacher werden, den Wolf auszuschalten,
trotzdem fühlte er sich nicht wohl dabei, den Wolf in seinem Nacken zu haben. Er betrat
die dunkle Gasse, hörte die schweren Schritte des Himmelswolfes direkt hinter sich. Als
sie einige Meter gegangen waren, fuhr Sam herum, die Faust zum Schlag gegen den Hals
des Wolfes erhoben.
Doch zu seiner Überraschung wurde seine Faust abgewehrt. Ihn traf ein harter Schlag in
die Magengrube, der ihm die Luft aus dem Körper trieb. Instinktiv fuhr er aus der Hocke
heraus nach oben und stieß Tychael die Faust gegen das Kinn. Die beiden ungleichen
Gegner stoben auseinander, standen sich grimmig gegenüber.
„Idiot!“, fluchte Tychael. Er warf einen Blick zur Seite, aber niemand schien zu
bemerken, was in der Gasse vor sich ging. Er schüttelte den Kopf, ballte die Fäuste. „Was
dachtest du dir dabei, Samuel?“
Sam erstarrte, als er seinen Namen hörte. „Was…?“
„Lassen wir das.“ Tychael rollte mit den Augen und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ja, ich weiß, wer du bist. Wir sind uns schon einmal begegnet, auch wenn du das kaum
in Erinnerung behalten haben dürftest. Jedenfalls nicht, wenn man nach deinen
schwarzen Augen zu diesem Zeitpunkt geht.“ Er schüttelte den Kopf. „Sagen wir einfach,
dass ich die zweifelhafte Ehre hatte, dir bei einem deiner Kämpfe gegenüberzustehen.“
Sam ließ die Maskerade fallen. „In der Regel kann niemand hinterher Bericht erstatten.“
Skeptisch betrachtete er den Himmelswolf. Er erkannte Tychael tatsächlich nicht. Doch
wenn er bei dem Kampf die Kontrolle verloren hatte, war das keine große Überraschung.
Die meisten Dinge geschahen dann wie in einem Blutrausch, den er nicht aufhalten
konnte. Tychael musste großes Glück gehabt haben, das zu überleben.
„Nun, ich habe mich damals nicht gerade sehr heldenhaft verhalten“, gab der Wolf zu.
„Außer mir dürfte niemand sonst wissen, wer du bist.“
„Was sollte mich dann daran hindern, diesen Umstand zu ändern?“ Sam zog fragend die
Augenbrauen in die Höhe, während seine Gedanken rasten. Er hatte gedacht, dass
lediglich Azrael ihn wiedererkennen würde. Zu erfahren, dass mindestens einer der
Himmelswölfe ebenfalls dazu in der Lage war, konnte seine Suche nach Lizzie abrupt
beenden. Wenn sie tatsächlich geflohen und alleine im Himmel unterwegs war, brauchte
sie ihn mehr denn je.
„Du kannst mich töten“, erklärte Tychael. „Ich bin mir sicher, dass dir das nicht
schwerfallen würde, nicht einmal mit dem Siegel. Aber ich weiß auch, weswegen du hier
bist.“ Er atmete tief ein, während Sam ihn aufmerksam musterte. „Du suchst Lizzie“,
stellte der Himmelswolf leise fest. „Du kannst also entweder versuchen, dich durch den
ganzen Himmel zu metzeln, um sie zu finden – oder mir einen Vertrauensvorschuss
geben.“
Sam runzelte die Stirn. „Du bist ein Himmelswolf. Ich habe keinen Anlass, dir zu
trauen.“ Besser wäre es, das einfach hier und jetzt zu beenden. Vermutlich kreisten die
anderen Wölfe sie gerade ein. Aber etwas in Tychaels Blick brachte ihn dazu,
innezuhalten. Zumindest konnte er sich anhören, was ihm der Himmelswolf zu sagen
hatte. Hätte er Sam töten wollen, dann hätte er dies mit dem anderen Wolf gemeinsam
getan. Wieso also wollte Tychael ihn scheinbar alleine sprechen?
„Nicht jeder Wolf steht bedingungslos hinter Azrael, auch ein paar von uns haben
Zweifel.“ Tychael sah auf die Straße zurück, als befürchtete er, dass jemand seine Worte
hören könnte. Aber es war niemand zu sehen.
„Selbst wenn das der Fall sein sollte – wieso sollte ich dir trauen? Genauso gut könnte
das eine Falle sein.“
„Dann wäre das aber eine reichlich erbärmliche.“
Sam zuckte mit den Schultern. „Wärt ihr gut darin, dann wären ein paar mehr von euch
heute noch am Leben. Ihr habt schon früher versucht, mir die eine oder andere Falle zu
stellen.“
„Ja, davon habe ich gehört.“ Tychael seufzte. „Und dafür haben sie teuer bezahlt. Wie
soll ich dir klarmachen, dass meine Absichten keinen Verrat beinhalteten? Dein
Misstrauen gegen meine Brüder ist gerechtfertigt. Es gibt wohl nur eine Person, der du
vertraust. Aber Lizzie ist ohnehin nicht mehr in der Stadt.“
„Was?“ Sam trat einen Schritt vor. „Gerade eben noch sagtest du …“
„Ich habe Dariel in die falsche Richtung geschickt. Wenn ich dir helfen will, wieso sollte
ich dann dafür sorgen, dass meine Brüder Lizzie finden?“
„Was mich wieder zu der Frage zurückbringt, wieso du uns überhaupt helfen willst.
Welchen Vorteil versprichst du dir davon?“ So leicht ließ Sam sich nicht beirren. Es war
die längste Unterhaltung, die er jemals mit einem Himmelswolf geführt hatte. Genau
genommen war es die Erste, die über bloßes Ich-töte-dich-zuerst-Geplänkel hinausging.
Hoffentlich hatte Tychael recht, und die Wölfe gingen tatsächlich der falschen Spur nach.
„Das Mädchen hat mir nichts getan“, erklärte Tychael. „Es gibt keinen Grund, weswegen
ich mir ihren Tod wünschen sollte. Außerdem weiß ich, was sie dir bedeutet.“
„Wenn man den Plakaten glaubt, dann weiß das so ziemlich jeder hier“, erwiderte Sam
ungerührt. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass inzwischen jeder einzelne Engel über ihr
Leben Bescheid weiß. Und über den Grund, weswegen sie hier ist.“
„Du meinst die Tatsache, dass sie ihre Seele für dein Leben gab? Ja, das weiß tatsächlich
der gesamte Himmel.“
Sam zuckte zusammen.
„Du scheinst noch nicht viel Zeit gehabt zu haben, dir über die Bedeutung dieses Paktes
Gedanken zu machen. Geschweige denn darüber, was für Auswirkungen Lizzies Tat und
ihr Auftauchen im Himmel haben könnten.“ Der Himmelswolf lächelte unwillkürlich.
„Ich habe die Geschichten über dich und Lizzie nicht nur gehört, sondern sie auch
gesehen.“
„Was soll das bedeuten? Was hast du mit Lizzie zu schaffen?“ Sam ballte die Fäuste.
Wenn Tychael wusste, wo Lizzie und Raphael lebten, dann war er vielleicht auch für
Azraels Auftauchen dort verantwortlich. Sam hatte nicht den Großteil seines Lebens für
Lizzies Schutz gesorgt, damit das alles von einem einzigen Wolf zunichtegemacht wurde.
Abwehrend hob Tychael eine Hand. „Beruhige dich. Es gibt keinen Grund, sich Sorgen
zu machen. Ich sagte doch, du und ich sind uns schon einmal begegnet. Einer der Gründe,
warum ich heute noch lebe, ist Lizzie.“ Tychael ließ die Hand wieder sinken. „Vor
einigen Jahren griffen dich meine Brüder in einer verlassenen Fabrikhalle an. Als ich sah,
wie du gegen sie gekämpft hast, bekam ich Panik. Ich war vor Angst wie gelähmt, und
versteckte mich hinter einer Hauswand.“ Er strich sich durch die Haare. „Es war ein
Gemetzel“, fügte er leise hinzu.
Sam erinnerte sich nur zu gut an den Kampf.
Er hatte mitten in der Halle gestanden und einen Wolf nach dem anderen abgewehrt.
Schließlich war es geschafft, schwer atmend stand er da. Um ihn herum die leblosen
Körper von gut einem Dutzend Himmelswölfen. Blut tropfte von seinen Händen, eine
Wunde zog sich quer über seine linke Seite. Er hatte den Kampf nicht unbeschadet
überstanden, aber zumindest lebte er noch. Er versuchte, sich selbst und seine Gedanken
zu sammeln, knickte jedoch ein, als wäre die Last zu groß. Sam hockte auf dem Boden,
verkrampfte seine Hände über dem Kopf. Er keuchte auf, es war ihm alles zu viel. Er
konnte das nicht mehr, wollte es nicht mehr sehen. Doch die Dunkelheit in ihm schrie
immer weiter nach Blut. Die Schatten zuckten über den Boden, als flüsterten sie ihm
etwas zu.
Ein Klingeln zerriss die Stille. Sam zuckte zusammen, richtete sich auf. Er tastete fahrig
nach dem Handy in seiner Tasche, zog es mit zitternden Fingern heraus.
„Ja?“ Er blinzelte. Sein Blick wurde wieder klar.
„Sam? Hier ist Raphael. Lizzie ist im Krankenhaus, sie hatte einen Unfall. Sie…“
„Was?!“Alle Alarmglocken schrillten in seinem Innern. „Wann ist das passiert? Geht es
ihr gut?“ Sam spürte, wie alle Farbe aus seinem Gesicht wich.
„Es war nur ein Fahrradunfall, nichts lebensbedrohliches. Sie hat sich das Handgelenk
gebrochen. Aber vielleicht solltest du herkommen.“
Er schloss für einen Moment die Augen, atmete tief ein. „Ich bin bald da“, versprach er
leise und beendete das Gespräch. Für einen Augenblick starrte Sam noch auf das Display,
als könnte er dort die Antworten finden, die ihm der Anrufer nicht hatte verraten wollen.
Er biss sich auf die Lippe und wählte eine Nummer.
„Zack? Ich bin’s. Ja, mir geht es gut.“ Sam rollte mit den Augen, fuhr sich mit einer
Hand durch das blutverschmierte Haar. „Oder sagen wir, es geht mir besser als den
Wölfen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass ich heute
Abend nicht antreten werde. Ich muss nach Lillienmarsch.“
„Ist das dein Ernst? Sam, du weißt, wie ich darüber denke.“
„Ja, das ist mein voller Ernst.“ Mit einem leisen Ächzen richtete sich Sam auf, stand nun
wieder fest auf beiden Beinen. „Zack, darüber werde ich nicht diskutieren. Und wenn die
apokalyptischen Reiter höchstpersönlich auftauchen, es ist mir egal! Lizzie hatte einen
Unfall, sie liegt im Krankenhaus. Ich werde da jetzt hinfahren!“
Die Schatten bäumten sich auf, als wollten sie ihren Herrscher unterstützen. Doch kaum
hatten sie sich aufgerichtet, wichen sie wieder zurück. Sam hatte sich unter Kontrolle. Er
brauchte keine Hilfe von seinem Element.
„Das mit dem Unfall tut mir leid. Brauchst du Hilfe? Wenn sie schläft, kann ich
sicherlich etwas tun.“
„Nein. Das ist nett gemeint, aber ich denke, dass ihr Vater alles im Griff hat. Du brauchst
sie nicht heilen.“ Sam muste lächeln. Es war ein ehrliches, normales Lächeln, als wäre er
ein ganz gewöhnlicher Junge, der mit einem Freund telefonierte. Und kein dämonischer,
Erbe der Hölle, der inmitten von Toten stand. „Trotzdem: Danke. Ich melde mich, sobald
ich mehr weiß, versprochen. Bis dann.“ Sam legte auf. Er hatte das Handy wieder in
seiner Hosentasche verstaut und die Halle mit raschen Schritten verlassen.

„Meine Brüder hatten keine Chance gegen dich“, sagte Tychael, als hätte er Sams
Gedanken gelesen. „Du hast gewirkt, als stündest du am Rande des Wahnsinns, als
könntest du jederzeit hinunterstürzen. Doch als der Anruf mit ihrem Unfall kam, als du
ihren Namen sagtest, war das plötzlich wie fortgewischt. Von Lizzie zu hören, hatte
gereicht, die Dunkelheit in dir wieder in die Schranken zu weisen.“
„Du weißt schon so lange von Lizzies Existenz?“ Bei dem Gedanken lief Sam ein kalter
Schauder über den Rücken. Es war der einzige Unfall gewesen, den Lizzie jemals gehabt
hatte. Auf dem Weg nach Lillienmarsch hatte er sich die schlimmsten Szenarien
ausgemalt, dabei war es nur ein Bruch. Aber das war schon viele Jahre her. Wieso tauchte
der Himmelsherrscher dann jetzt erst auf? „Warst du es, der sie an Azrael verraten hat?“
Tychael schüttelte den Kopf. „Nein. Es wäre mir ein Leichtes gewesen, und sicher hätte
ich mir damit viele Schwierigkeiten erspart. Ganz zu schweigen von meinen Brüdern, die
dann heute noch am Leben wären. Aber ich habe nie ein Wort über sie verloren.“ Der
Himmelswolf runzelte die Stirn. „Damals habe ich gesehen, was in dir vorgeht, Sam. Du
weiß vielleicht nicht, wie zerstörerisch diese Dunkelheit sein kann, aber ich schon. Ich
war nach Luzifers Tod in der Hölle. Ich sah, welche Auswirkungen es hat, wenn sie ohne
Kontrolle losbricht. Du bist wie ein laufendes Pulverfass, eine Zeitbombe, die niemals
explodieren darf. Und Lizzie ist das Einzige, was genau das verhindert. Denkst du
wirklich, ich würde unser einziges Sicherheitsventil entfernen?“ Skeptisch sah Tychael
ihn an. „Glaub mir, ich habe kein Interesse daran, dass der Himmel oder die Erde deinem
Element zum Opfer fallen. Und das würde es, wenn ihr etwas passiert. Du brauchst sie.“
„Schön.“ Sam runzelte die Stirn. Es fiel ihm schwer, dem Himmelswolf Glauben zu
schenken. Seit vielen Jahren kämpfte er nun schon gegen sie, hatte gelernt, sie als Gegner
zu schätzen und sich gleichzeitig vor ihnen in Acht zu nehmen. Weder ihnen noch
Michael war zu trauen, dafür waren sie zu sehr von Azrael manipuliert worden. Sie
glaubten und kämpften für eine Wahrheit, die es nicht gab. Aber er spürte auch, dass
Tychael die Wahrheit sagte. „Wenn das stimmt, was du sagst, wie finde ich Lizzie dann?
Soweit ich weiß, wollte Azrael sie geradewegs zum Himmelsgericht bringen.“
„Das war auch der Plan. Michael begleitete sie dorthin, stellte Lizzie der Richterin Libra
vor. Wenn man den Geschichten der Engel Glauben schenken mag, dann hat sie das nicht
einfach so über sich ergehen lassen. Lizzie hat stark für dich und euer Leben Partei
ergriffen.“ Der Himmelswolf lächelte. „Glaub mir, das hat für ziemlichen Aufruhr unter
den Engeln gesorgt. Das Gericht tagt nicht oft, nur bei wirklich wichtigen Dingen.
Jemanden mit Asriels Seele zu verurteilen, gehört dazu. Man erweist diesen seltenen
Gelegenheiten und vor allem der Richterin also entsprechenden Respekt. Lizzie sah das
allerdings anders.“
„Ja, das tut sie häufiger“, murmelte Sam und biss sich auf die Lippe. Kampflos
aufzugeben war absolut nichts, was zu Lizzie passte. Sie würde es noch schaffen, dass
sich der ganze Himmel gegen sie auflehnte. Nur war das etwas, was sie absolut nicht
brauchen konnte, schon gar nicht jetzt. „Ich kann mir vorstellen, dass Libra oder die
anderen Engel davon nicht begeistert waren. Ganz zu schweigen von Azrael.“
„Wie man´s nimmt.“ Der Wolf zuckte mit den Schultern. „Sie hat auf jeden Fall für
Stimmung gesorgt. Allerdings konnte der Urteilsspruch nicht verkündet werden. Kurz
vorher griffen die Rebellen an.“
„Wie bitte?“ Erbost trat Sam einen Schritt vor.
Tychael hob die Hände. „Beruhige dich! Wie konntest du mit diesem Temperament so
lange überleben?“ Er runzelte die Stirn. „Du scheinst ziemlich oft am Rand eines
Nervenzusammenbruchs zu stehen, vor allem wenn Lizzie nicht an deiner Seite ist.“
„Wo ist sie?“, knurrte Sam.
„Nach meinen letzten Informationen geht es Lizzie gut. Die Rebellen haben das gesamte
Himmelsgericht zerstört, und sich damit einige Feinde gemacht. Aber Lizzie konnte
dieses Chaos nutzen, um zu entkommen. Deswegen wird sie im ganzen Himmel
gesucht.“
„Und du weißt, wo sie ist?“ Langsam verlor er die Geduld.
„Zumindest kann ich mir denken, welchen Weg sie eingeschlagen hat.“
„Worauf warten wir dann noch? Bring mich zu ihr!“
„So einfach ist das nicht, Sam.“ Der Himmelswolf blickte ihn ernst an. „Das Gericht liegt
in Schutt und Asche, es ist halb über den Abgrund gerutscht. Die Rebellen machen keine
halben Sachen. Sie wollten Asriel, auch wenn sie sie nicht bekommen haben. Doch
genauso wenig wie meine Brüder werden sie mit der Suche nach Lizzie aufhören. Bereits
jetzt sind Hunderte von Engeln unterwegs, um sie zu finden, begleitet von uns
Himmelswölfen. Ein Dämon, ein Fremder, wie du es bist, würde sofort auffallen. Wir
müssen bis zum Einbruch der Nacht warten.“
„Und worauf genau warten wir?“ Sam verschränkte die Arme vor der Brust. Er hatte die
Nase voll, tatenlos herumzustehen. „Ich habe keine Angst vor deinen Brüdern, das weißt
du. Und mit den Rebellen habe ich nach dieser Aktion ohnehin noch einiges zu klären.“
Wenn Lizzie während des Angriffs verletzt worden wäre, würden diese dämlichen Engel
das sehr schnell bereuen. Azrael war dann ihr geringstes Problem. Mal sehen, wie sich
diese Rebellen gegen jemanden behaupteten, der sich zur Wehr setzen konnte.
„Wir müssen zum Himmelsgericht, um ihre Schritte nachverfolgen zu können. Das
Gebirge dahinter ist immens.“ Tychael seufzte. „Es wird nicht einfach werden, Lizzie zu
finden. Im Moment wimmelt es dort von meinen Brüdern. Mag ja sein, dass du darin kein
Problem siehst, aber ich schon. Ich bin nicht bereit, sie dir zum Fraß vorzuwerfen, wenn
es auch anders geht. Wir werden sie ohne weiteres Blut vergießen finden, Sam.“
„Im Zweifelsfall entscheidest du dich also für die Wölfe“, stellte Sam fest. Abwartend
sah er Tychael an. Das lief alles ganz anders, als er gedacht oder erwartet hatte. Vor
allem hatte er bei der Suche nach Lizzie keine Hilfe von einem Wolf erwartet. Konnte er
das unter diesen Umständen überhaupt als Hilfe bezeichnen? Sobald sich die Gelegenheit
bot, würde Tychael ihm sicherlich in den Rücken fallen, das lag in seiner Natur. Jeder
Wolf war Azrael treu ergeben.
Aber wenn ihm ein kurzzeitiges Bündnis mit dem Himmelswolf half, Lizzie zu finden
oder ihr zumindest näher zu kommen, dann sollte ihm das recht sein.
„Ich bin mit ihnen aufgewachsen“, entgegnete der Krieger leise. „Für mich sind die
Himmelswölfe das, was einer Familie am nähesten kommt. Sie sind meine Brüder.“
„Dann ist das Ganze ja noch viel verkorkster, als ich dachte.“
„Würdest du jemanden töten, den du von Kindesbeinen an kennst?“ Fragend hob Tychael
eine Augenbraue hoch. „Wie sieht das mit Lizzie aus? Oder mit dem Rest deiner
Familie?“
„Lizzie ist meine Familie“, erklärte Sam. „Natürlich könnte ich ihr niemals etwas tun.
Doch das hat nichts damit zu tun, wie lange ich sie schon kenne, sondern damit, was wir
zusammen erlebt haben. Es hängt damit zusammen, wer sie ist, was sie tut.“ Er zuckte
mit den Schultern. „Das ist es, was Familie ist. Sie ist für dich da. Dabei spielt es keine
Rolle, ob man miteinander blutsverwandt ist oder nicht. Diese Art von Familie hat sich
für mich als feindlich herausgestellt. Doch für Lizzies Vater, der mich großgezogen hat,
und für meinen Freund Zack, würde ich buchstäblich durch die Hölle gehen. So, wie sie
es auch für mich machen würden. Das ist es, was Familie ausmacht. Dass man sich
einander beisteht, sich hilft. Kannst du das auch von deinen Brüdern sagen?“ Sam hob
eine Augenbraue in die Höhe. „Auf mich machen die Wölfe nicht gerade den Eindruck,
als wären sie groß dem Familiengedanken verfallen.“
„Tja.“ Tychael blinzelte. „Wie gesagt, es gibt Wölfe und Wölfe. Die einen folgen Azrael,
sind ihm treu ergeben. Sie würden sich gegenseitig töten, wenn er es verlangen würde.
Für sie ist Azrael alles, was sie brauchen. Doch nicht für alle von uns.“ Er zuckte
andeutungsweise mit den Schultern. „Einige von uns haben Zweifel. Lizzies Ankunft im
Himmel wirft Fragen auf, Veränderung liegt in der Luft. Azrael scheint nicht mehr so
unbesiegbar, so unangreifbar zu sein, wie wir stets dachten. Lizzie könnte unsere Chance
auf eine friedliche Zukunft sein. Eine Zukunft in Freiheit.“
„Lizzie wird nicht gegen Azrael kämpfen, falls du das meinst.“ Sam schüttelte den Kopf.
Schon allein die Vorstellung, dass Lizzie Azrael erneut gegenüberstehen sollte, ließ ihn
die Fäuste ballen. Dazu durfte es nie wieder kommen. Bereits bei ihrer letzten Begegnung
mit dem Herrscher des Himmels hatte es sie beinahe das Leben gekostet. Selbst Raphael
hätte Schwierigkeiten gehabt, ihre Verletzungen zu heilen. Auch nur anzunehmen, dass
sie gegen Azrael kämpfen könnte, war lachhaft.
„Die Rebellen denken genauso“, erklärte Tychael, als könnte er Sams Gedanken lesen.
„Sie warten seit vielen Jahrhunderten auf Asriels Rückkehr. Wenn man ihnen glaubt, so
kam Asriel nur ihretwegen zurück. Um gegen ihn zu kämpfen und den Himmel zu
erlösen.“
„Blödsinn.“ Sam schnaubte. „Ich nehme dir ja nicht gern deine Illusionen, aber Asriel ist
sicherlich nicht für die Rebellen zurückgekommen.“ Nicht, wenn er an seine letzte
Begegnung mit dem Engel dachte. Asriel war voller Hass gewesen, voller Wut. Sie
dürstete nach Rache, und sie würde alles tun, um sie auch zu bekommen. So verhielt sich
niemand, der den Himmel retten wollte.
„Wie auch immer du das siehst, die Rebellen sind davon überzeugt. So schnell werden sie
sich auch kaum davon abbringen lassen. Vor allem aber werden sie nach Lizzie suchen“,
gab der Wolf zu bedenken. „Sobald die Kinder der Sonne sie gefunden haben, werden sie
nicht zögern, Asriel in ihre Pläne einzubinden. Selbst wenn es bedeutet, Lizzies restliche
Seele dafür freizusetzen.“
„Ein Körper ist nur für eine einzige Seele gemacht“, hörte Sam Zacks Stimme in seinem
Kopf. „Früher oder später wird eine von beiden Lizzies Körper verlassen müssen. Sonst
zerbricht ihr Körper auf Dauer daran.“
Sam schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. Seit Azraels Angriff war erst ein Tag
vergangen, doch plötzlich erschien es Sam viel länger. Was war in der Zwischenzeit
passiert? Hatte Lizzies Seele weiteren Schaden genommen? Sie mussten sich beeilen.
Niemand konnte sagen, wie viel Zeit ihr noch blieb. Wenn er sie endlich fand, was von
Lizzie selbst war dann noch übrig? Würde sie es sein, die er in die Arme schließen
konnte – oder würde ihm Asriel entgegenblicken? Er hatte nicht vergessen, was er Lizzie
in der Ruine versprochen hatte. Doch wie sollte er Asriel aufhalten, wenn diese noch
immer Lizzies Körper für ihre Zwecke benutzte?
„Wir finden sie vor den Rebellen“, versprach Tychael, der Sam sichtlich besorgt ansah.
„Konzentriere dich auf die Gegenwart, auf das, was vor uns liegt. Wenn jemand Lizzie
finden kann, bist du es.“
„Hoffentlich“, murmelte Sam und lockerte die angespannten Fäuste. Er würde sich später
überlegen, was er mit Asriel tun sollte. Dann, wenn es unausweichlich war. Doch jetzt
ging es nicht um diesen verfluchten Engel, sondern um Lizzie. Nur um sie ging es, nur
sie war es, die zählte. Asriel selbst konnte ihm gestohlen bleiben, genau wie die
Hoffnungen und Wünsche, die die Engel mit ihr verbanden. Nichts davon ging ihn etwas
an.
Tief atmete Sam ein. „Du scheinst über alles gut informiert zu sein“, stellte er fest und
sah dem Himmelswolf in die blassen Augen. „Sicher hast du dir auch einen Plan überlegt,
wie es weitergehen soll.“
„Etwas in der Art. Allerdings ist es kein sehr fortgeschrittener Plan.“
Sam zuckte mit den Schultern. „Im Moment ist mir jede Art von Plan recht. Und glaub
mir, ich habe schon einige verrückte Aktionen hinter mir.“ Nicht zuletzt die, nun im
Himmel zu sein und den Ausführungen eines Himmelswolfes zu glauben.
„Aus irgendeinem Grund kaufe ich dir das sogar ab.“ Tychael atmete tief ein. „Wie auch
immer, ich würde vorschlagen, dass wir bis zum Einbruch der Dämmerung warten. In
ihrem Schutz kommen wir leichter in das Gericht. Jedenfalls, ohne dabei Aufsehen zu
erregen.“
„Dir ist schon klar, dass ich jederzeit die Dunkelheit rufen kann?“
„Wenn es um zwölf Uhr mittags plötzlich schlagartig finster wird, fällt das auch
bestimmt niemandem auf“, spottete Tychael. „Dem wird niemand nachgehen wollen,
schon gar nicht Azrael.“
„Schon gut.“ Sam rollte mit den Augen. „Der Punkt geht an dich.“
„Herzlichen Dank.“ Der Himmelswolf unterdrückte offenbar ein Grinsen, wurde aber
schnell wieder ernst. „Wir finden sie, Sam. Sobald wir im Himmelsgericht sind, müssen
wir nur Lizzies Weg nachverfolgen. Der Rest ist einfach: Ihr folgen und eine Möglichkeit
finden, euch beide wieder nach Hause zu bringen.“
„Bei dir klingt das tatsächlich einfach“, musste Sam gestehen. „Was, wenn deine Brüder
sie vor uns finden?“
„Dann müssen wir eben schneller sein.“ Tychael zuckte mit den Schultern.
Die Himmelswölfe und auch Lizzie hatten einen klaren Vorsprung, es war ein Spiel auf
Zeit.
„Und was machen wir bis dahin?“ Vielsagend warf Sam einen Blick auf den wolkenlosen
Himmel. Die warme Mittagssonne schien ihn zu verhöhnen, als wollte sie ihm sagen,
dass sie ihren Posten so schnell nicht aufgeben würde. Die Aussicht, Stunden darauf zu
warten, bis am Abend endlich die Dämmerung hereinbrechen würde, erfreute Sam nicht
gerade. In diesen Stunden konnte einfach alles geschehen, Stunden, in denen Lizzie
Asriel weiterhin ausgesetzt war.
Tychael schien das ähnlich zu sehen, da er einen Seufzer ausstieß. „Bis dahin versuchen
wir einfach, dich aus Schwierigkeiten herauszuhalten. Niemand darf dich zu sehen
bekommen, vor allem meine Brüder nicht. Ich kenne ein verlassenes Haus hier in der
Nähe, wo wir so lange unterkommen können.“
„Ich habe Versteck spielen schon immer gehasst“, murmelte Sam. Lizzie hatte er stets
gefunden, das war nicht das Problem gewesen. Etwas zog ihn mit der größten
Selbstverständlichkeit zu ihr. Doch wenn es darum ging, sich vor anderen zu verstecken,
war das immer eine Katastrophe gewesen.
„Dann denk an das eigentliche Ziel des Ganzen“, erinnerte Tychael ihn leise. „Nur, wenn
du möglichst lange unentdeckt bleibst, kannst du Lizzie finden.“
„Schön.“ Hoffentlich ging das gut. Es musste einfach gut gehen, rief Sam sich zur
Vernunft. Tychael hatte recht, Lizzies Leben hing davon ab.

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