Hierfür solltet ihr am besten auch Band 1 gelesen haben. In der Geschichte werden die ersten zarten Bande zwischen Sam und Lizzie geknüpft. Sie spielt ebenfalls vor dem ersten Band. Viel Spaß bei lesen!
Mit offenen Augen starrte Sam an die Decke. Was für ein merkwürdiger Tag.
War das überhaupt alles wirklich geschehen?
Heute morgen noch erschien ihm sein Leben völlig trostlos, hatte sich von der Brücke stürzen wollen. Nun hatte er ein Leben gerettet, sich mit einem Erzengel unterhalten und wurde praktisch adoptiert.
Das konnte nicht real sein.
Und doch lag er hier auf diesem provisorischen Feldbett, zugedeckt mit einer selbst gemachten Decke aus Stoffresten in einem Zimmer, dass sein eigenes werden sollte.
Sam verschränkte die Arme unter dem Kopf, sah sich um. Dieser Raum war viel größer als sein altes Zimmer. Dass, das er bei seiner Mutter Vivien gehabt hatte.
Er stieß einen Seufzer aus und stand auf.
Raphaels Ansinnen in Ehren, aber das hatte keinen Sinn. Er konnte nicht hier bleiben. Seine eigene Mutter hatte ihn fortgejagt, wieso sollte Lizzie das anders sehen? Dabei konnte er nicht aufhören, an sie zu denken. An ihre Hand, die nach seiner griff, fest drückte.
Auf bloßen Füßen lief Sam aus dem Raum, schritt auf Zehenspitzen die knarzende Treppe hinab. Als er am Wohnzimmer vorbei kam, hörte er ein leises Weinen.
Irritiert hielt er inne. Nur noch wenige Schritte, dann hätte er seine Schuhe und die Haustüre erreicht.
Sam biss sich auf die Lippe.
Ganz vorsichtig stieß er die Wohnzimmertüre weiter auf, sah hinein. “Lizzie?”
Rasch wischte sie sich die Tränenspuren aus dem Gesicht, als sie ihren Namen hörte. Über ihre Schulter hinweg sah Lizzie zur Tür.
“Sam! Kannst du auch nicht schlafen?”
“So könnte man das nennen.” Nun betrat er den Raum ganz. Lizzie saß auf der breiten Couch, direkt neben dem Kamin. Ihre Augen waren gerötet, der schmale Körper angespannt. “Und du? Schlecht geschlafen?”
“Ein Alptraum”, erklärte Lizzie, zuckte mit den Schultern. “Ganz merkwürdige Dinge. Goldene Türen, ein fremder Mann…es war alles durcheinander.” Sie war froh, dass sie sich nicht so genau an die Bilder erinnern konnte. Alles, was sie wusste, war, dass sie eine Heidenangst verspürt hatte. So, als wäre etwas hinter ihr her. Etwas, was sie nicht sehen oder hören konnte, lediglich spüren.
“Immerhin hast du nicht vom ertrinken geträumt.” Unsicher trat Sam einen Schritt näher, zog sich fröstelnd die Arme um den Oberkörper. Hier unten war es viel kälter als in seinem Bett.
Kaum sah Lizzie das, hob sie die Decke an. “Komm her, wir können uns die Decke teilen”, schlug sie vor.
Einen winzigen Moment lag zögerte Sam. Doch dann siegte sein Wunsch nach Wärme. Schnell überwand er die Distanz zwischen ihnen, schlüpfte unter die dargebotene Decke. Fast augenblicklich fühlte er sich besser.
“Gott, bist du warm”, murmelte er, als sie Seite an Seite auf dem Sofa saßen. Es war eine Wärme, die sanft war, ihn von innen heraus beruhigte. Plötzlich erschien es Sam verrückt, sich mitten in der Nacht auf den Weg zu machen, um klammheimlich zu verschwinden. Was würde Lizzie von ihm denken? Er hatte sie gerade erst kennengelernt. Ganz sicher wollte er sie nicht verletzen.
“Gern geschehen”, lächelte sie. Es war schön, Gesellschaft zu haben. Sams Anwesenheit beruhigte sie, vertrieb die Bilder aus ihren Alpträumen. “Hast du denn vom ertrinken geträumt?”, erkundigte sie sich.
“Nein, ich konnte einfach nicht einschlafen”, gab Sam zu. “Die letzten Tage waren nicht gerade angenehm für mich.”
“War dein Gespräch mit Dad denn in Ordnung? Als er dich sah, wirkte er etwas erschrocken.”, fügte Lizzie hinzu.
Er stieß ein Schnauben aus. Plötzlich einem Erzengel gegenüber zu sitzen, war auch für Sam neu gewesen. “Dein Vater war nur froh, dass du noch am Leben warst”, meinte er. Immerhin hatte Sam Raphael geschworen, sein Geheimnis nicht zu verraten. Lizzie hatte keine Ahnung, wer ihr Vater in Wahrheit war. Wenn es nach Sam ging, würde sie es auch nie erfahren. “Raphael ist wirklich sehr nett”, ergänzte er. Ruhig hatte der Engel ihm die Lage erklärt. Er konnte dem Jungen rasch die Angst nehmen, dass er ihn nun töten würde. Doch obwohl sie natürlich Feinde waren, stand Raphael das keineswegs im Sinn. Ganz im Gegenteil, er war dankbar dafür, dass Sam seiner Tochter das Leben gerettet hatte.
“Ja, Dad ist schwer in Ordnung”, stimmte Lizzie zu, musste lächeln. “Dann bleibst du also hier?”
“Ich bin mir nicht sicher.” Sam wich ihrem Blick aus. “Meine Mutter ist ganz anders als dein Vater. Das ist alles sehr neu für mich.”
“Ich kann dir helfen.” Ohne groß darüber nachzudenken, griff Lizzie erneut nach seiner Hand, genau wie am Fluss. Erstaunt sah Sam auf. Wie konnte eine so kleine Hand so viel Wärme in sich tragen? “Du bist nicht mehr alleine, Sammy.”
Ihm schoss die Röte in die Wangen. “Mich hat noch nie jemand Sammy genannt”, murrte er, lehnte sich zurück. Aber er ließ Lizzies Hand nicht los.
Auch Lizzie lehnte sich an die Sofakissen, bis ihre Schulter die von Sam berührte. “Gewöhn´ dich dran”, fand sie. “Ich mag deinen Namen.”
Sam zog eine Grimasse, widersprach aber nicht. “Du solltest jetzt schlafen”, stellte er fest. “Bist du nach den Erlebnissen heute denn gar nicht müde?!”
“Doch, sicher. Nur hat mir der letzte Alptraum gereicht.” Lizzie runzelte die Stirn. Es war ihr erster Alptraum gewesen. Und dieser eine hatte völlig genügt.
“Tja, du bist ebenfalls nicht alleine. Noch kann ich nicht einschlafen. Aber ich kann aufpassen, wenn du das möchtest”, fügte Sam hinzu. “Wenn ich sehe, dass du schlecht träumst, dann wecke ich dich einfach.”
Lizzie blinzelte, dachte einen Moment darüber nach.
Schließlich nickte sie. “Ja, das wäre gut”, beschloss sie. Solange Sam ihr versprach, dass er aufpasste, würden die Träume vielleicht fernbleiben. Erleichtert stieß sie einen Seufzer aus. Jedenfalls war Sam ihr lieber, als das mit ihren Alpträumen ihrem Vater erzählen zu müssen. Raphael war immer schnell besorgt, wenn es sie betraf.
Lizzie rückte enger an Sam heran, lehnte sich an seine Schulter. Sie schloss die Augen, konnte spüren, wie der Schlaf nach ihr griff. Lange genug hatte er auf sie warten müssen. Sanft zogt er das Mädchen hinüber auf seine Seite.
“Schlaf gut”, murmelte Sam. Vorsichtig zog er seinen Arm unter ihr hervor, legte ihn über ihre Schulter und zog die Decke zurecht. Die Nacht wach zu verbringen, erschien ihm plötzlich gar nicht mehr so schlimm. Nicht, wenn er Lizzie dadurch helfen konnte.
Dennoch fragte er sich, wie sie so ruhig neben ihm schlafen konnte. Spürte sie wirklich nicht, dass er anders war, oder war es ihr schlichtweg egal? In seinem ganzen, bisherigen Leben waren ihm die Menschen aus dem Weg gegangen. Als hätte Sam etwas in sich, was sie abstieß. Wie eine leise Stimme, die ihnen zuflüsterte, sich vor dem Jungen in Acht zu nehmen.
Möglicherweise fiel es Lizzie nicht auf, weil sie so viel Zeit mit einem Erzengel verbracht hat. Zwei Engeln, wenn man es genau nahm, Raphael hatte etwas von einer Tante erwähnt.
Lächelnd bemerkte Sam, wie Lizzies Atemzüge regelmäßiger wurden. Sie war tatsächlich eingeschlafen, seelenruhig. Wie beneidenswert, schoss es ihm durch den Kopf.
Sachte verlagerte er sein Gewicht, lehnte sich tiefer in die bequemen Kissen. Für einen Moment würde auch er die Augen schließen, beschloss Sam. Dann würde es seinen wirren Gedanken sicher leichter fallen, weniger herumzuwirbeln. Es würde auch gar nicht lange dauern, danach konnte er wieder auf Lizzie aufpassen.
Nur ein Moment.
Als Raphael einige Stunden später nach Hause kam, bemerkte er irritiert den Lichtstreifen, der aus dem Wohnzimmer fiel. Angespannt schritt er leise zur Tür. Musste lächeln, als er ins Zimmer sah. Sam und Lizzie lagen Seite an Seite auf der Couch. Der Junge hatte seinen Arm um sie gelegt, als wollte er sie vor allem, was geschah, mit seinem ganzen Wesen schützen. Lizzies Kopf ruhte an Sams Brust, ihr friedlicher Schlaf wurde begleitet von seinem Herzschlag.
Raphael trat leise näher, deckte die beiden zu. Gabriel hatte ihn für verrückt erklärt, als er von dem jungen Dämon erzählte. Für einige Augenblicke hatte er selbst daran gezweifelt, ob es eine kluge Entscheidung sei. Durfte er seine Tochter mit einem Dämon aufwachsen lassen? Ausgerechnet mit einem Weser aus der Welt, von der er sie um jeden Preis fernhalten wollte?
Doch nun war der Erzengel überzeugt. Instinktiv wusste er, dass er Sam und Lizzie nicht mehr voneinander trennen konnte. Wer war er denn, in eine solche Begegnung einzugreifen? Ohne Sam wäre seine Tochter nicht mehr am Leben. Der Dämon würde sie weiterhin beschützen, würde dafür sorgen, dass ihr nichts passierte.
So, wie es aussah, war Sam nun Teil seiner Familie, stellte Raphael lächelnd fest.