Gabriels Vision

Auch dies ist wieder eine Geschichte, die ihr nach Band 1 von „Schattenengel“ lesen solltet. Hier wird ein wenig mehr auf Gabriel und ihre Fähigkeiten eingegangen- aber auch auf ihre Beziehung zu Lizzie. Viel Spaß beim lesen!

Schatten. Sie verschlangen alles, breiteten sich hungrig über die ganze Welt aus. Sam verlor die Kontrolle, schwarze Flügel brachen aus seinem Rücken hervor, einzelne Federn fielen haltlos zu Boden. Sie verschmelzen mit der Dunkelheit um sie herum, als hätte es sie nie gegeben.

Tränen liefen dem Jungen über das verschrammte Gesicht, Blut klebte auf seinen Armen. Er hob anklagend das Gesicht gegen den Himmel, den Mund zu einem Schrei geöffnet. Doch es kommt kein Laut heraus, der Schmerz hatte ihn bereits jegliche Kraft gekostet. Alles, was er ist, alles, was er je war, ist nun fort. Mit ihr hatte er alles verloren, was von Bedeutung war. Nichts war mehr von ihm übrig, sie hatte es mit sich genommen.

Hilflos drückt Sam ihren leblosen Körper an sich, es war ihr Blut, das an seinen Händen klebte. Wer auch immer sie ist, ihr Tod ist verantwortlich dafür, dass Sam sich verliert.

Und die ganze Welt mit in den Untergang reißt.

Gabriel weiß es, sie sieht seit vielen Jahren immer wieder, wie alles stirbt. Jegliches Leben wird ausgelöscht, niemand kann vor den Schatten entkommen, nicht einmal sie. Selbst Azrael hätte keine Möglichkeit, Sams vernichtende Kraft aufzuhalten.

Schon oft hatte Gabriel diese Bilder gesehen. Sie hatte von Anfang an gewusst, wozu Sam fähig war, hat mal mehr und mal weniger von dieser Szene gesehen. Leute wie Sam hatten schon immer Schwierigkeiten, sich zu kontrollieren. Scheinbar würde Sam der Letzte in einer langen Reihe sein, die dieser Kraft in sich nicht standhalten konnten.

Nur, wieso war Gabriel dann so traurig?

Wie ein Zuschauer stand sie neben den verschlingenden Schatten, ihr Herz zog sich zusammen, klopfte wild. Als wäre Sams Verlust auch der ihre gewesen, dabei war es ihr egal. Sie hatte nichts mit ihm zu tun. Sollte die Welt ruhig untergehen. Gabriel hatte lange genug auf ihr gelebt, genügend Zeit mit den Menschen verbracht. Es sollte sie nicht kümmern, wenn Sam sein Schicksal erfüllte, jeder hatte seine Aufgabe im Leben. Die Welt zu vernichten, schien seine Aufgabe zu sein, sein Schicksal.

Innerlich kopfschüttelnd kämpfte Gabriel darum, die Vision auszublenden. Sie konnte es ohnehin nicht verhindern, warum es sich also noch länger ansehen? Das würde sie nur deprimieren, und dabei wollte sie morgen früh aufstehen. Sie war mit Lizzie verabredet, da wollte sie nicht missmutig gelaunt sein.

Gabriel wandte sich von dem finsteren Bild vor sich ab, da fiel ihr Blick auf die hellbraunen Haare, die Sam leicht gelockt über die Schulter fielen.

Sie erstarrte auf der Stelle. Ein Schauer fuhr durch ihren Körper, schüttelte sie.

Nein, das konnte nicht sein. Unmöglich.

Gabriel streckte die Hand aus, wollte über die Haare streichen, die ihr so vertraut waren, ihren Namen rufen. Plötzlich wollte sie mit aller Macht zu Sam, wollte ihn an den Schultern schütteln und dafür sorgen, dass er damit aufhörte, dass er gegen sein Schicksal ankämpfte.

Da wachte sie auf.

Gabriel fuhr ruckartig in die Höhe, krampfte die Fäuste um die weiße Bettdecke. Ihr goldenes Haar fiel nach vorne, verdeckte ihr gerötetes Gesicht. Schwer atmend saß Gabriel einen Moment da. Versuchte, zu verarbeiten, was sie gesehen hatte.

Lizzie.

Das war unmöglich, das durfte nicht sein. War Sam wirklich in der Lage, sie zu töten? Bisher hatte sie angenommen, dass die beiden unzertrennlich waren. Die beiden waren praktisch zusammen aufgewachsen, keiner würde dem anderen etwas tun. Andererseits war Sam kein Mensch. Wenn er die Kontrolle über sich und seine Kräfte verlor, konnte ihn niemand mehr aufhalten.

Sam und Lizzie verbrachten viel Zeit miteinander. Sie brauchte nur zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, schon war es so weit. Lizzies Leben würde schneller enden, als sie es realisieren konnte. Beendet durch die Hände des Jungen, der ihr einst das Leben rettete.

Müde schloss Gabriel die Augen.

Sie hatte es gewusst. Von Anfang an hatte sie gewusst, dass es eine blöde Idee war, Sam zu adoptieren. Raphael wusste, wer oder was der Junge war. Er hätte die Pflicht gehabt, seine Tochter zu beschützen. Stattdessen hat er Lizzies Schicksal damit besiegelt. Hätte Raphael einfach auf Gabriel gehört, dann wären diese Dinge vielleicht anders gekommen. Niemand hatte ihn dazu gezwungen, Sam in seine Familie aufzunehmen, was hatte ihn nur dazu getrieben?! Das war eine dämliche Idee gewesen!

Mit zitternden Fingern griff Gabriel nach ihrem Handy. Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen durch das Zimmer, erwärmten einen pfeilförmigen Ausschnitt auf Gabriels Bett. Lizzie schlief bestimmt noch, aber Gabriel musste ihr einfach schreiben. Sie musste sich vergewissern, dass es ihrer Nichte gut ging, dass der Traum noch nicht Realität geworden war. Sobald sie eine Antwort bekam, würde es Gabriel sicherlich besser gehen. Noch war der Tag nicht gekommen, aber es konnte jederzeit so weit sein. Rasch fuhren ihre Finger über die Tasten.

“Hey, Kleines! Musste gerade an dich denken. Geht es dir gut?” Gabriel drückte auf Senden, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sich Gabriel, dass sie sich irrte. Durch Sam zu sterben, durfte nicht Lizzies Schicksal sein. Auf keinen Fall. Nein, ihre Nichte hatte ein langes Leben verdient, ein glückliches. Mit einer eigenen Familie, Kindern. Gabriel wollte niemals eigene Kinder haben, aber dafür wollte sie Lizzies Kinder auf den Armen halten, sie nach Strich und Faden verwöhnen. Miterleben, wie Lizzie älter wurde, ihr Leben lebte und in vollen Zügen genoss.

Doch es sah ganz danach aus, als würde genau dieses Leben bald enden.

Gabriels Hand vibrierte fordernd, riss sie aus ihren Gedanken. Sie schrak zusammen.

“Gott sei Dank!”, entfuhr es ihr. Eine Nachricht von Lizzie.

“Gabbs?! Wieso bist du schon wach? Was ist los?”, schrieb sie zurück. Gabriel musste lächeln, strich sich mit dem Handrücken über das verräterisch juckende Auge. Fast konnte sie ihre Nichte vor sich sehen. Vermutlich saß Lizzie unten am Küchentisch, bewaffnet mit einem Tee und einem guten Buch. Sie war oft früh wach, um die Zeit vor dem eigentlichen Beginn des Tages für sich zu nutzen. Trotz des guten Wetters würde sie einen von Sams Pulli tragen, bestimmt war er immer noch oder schon wieder abwesend. Es war Lizzies Art zu zeigen, dass sie ihren Freund vermisste, sich Sorgen um ihn machte. Nach ihrem Tee würde sie ein wenig Zeit in ihrem Atelier verbringen, ganz in ihrer Kunst versinken. So tief, dass Raphael Mühe haben würde, seine Tochter zum Essen ins Haus zu locken. Sie würden zusammen essen, lachen und sich über ihren Tag unterhalten bevor Lizzie zu ihrem Treffen mit Gabriel aufbrauch. Abends würden sich die drei gemeinsam einen Film ansehen, wie völlig normale Menschen. Weder Raphael noch Lizzie wussten, was auf sie zukam, dass ihre gemeinsamen Tage gezählt waren.

Wie sollte Gabriel ihrem Bruder erklären, dass er bald seine gesamte Familie verlieren würde? Bereits der Tod von Lizzies Mutter Elizabeth hatte ein tiefes Loch in Raphaels geschundener Seele hinterlassen. Selbst ohne Weltuntergang würde der Verlust von Lizzie ihn umbringen.

“Ich hatte nur einen Traum”, beruhigte Gabriel ihre Nichte. “Mach dir keine Sorgen. Wir sehen uns nachher zum Kaffee!” Sie biss sich auf die Lippe, dann schickte Gabriel auch diese Nachricht ab. Ermattet lehnte sie sich nach hinten.

Was jetzt?

Sie musste noch einmal mit Sam reden.

Bereits bei dem Gedanken daran stieß sie einen Seufzer aus. Gabriel und Sam hatten nicht gerade einen guten Draht zueinander. Was größtenteils daran lag, dass sie ihm nicht traute. Gut, Sam hatte Lizzie das Leben gerettet, und sie spürte instinktiv, dass er alles für Lizzie tun würde. Aber er blieb nun einmal das, was er war, und denen konnte man nicht trauen. Es gab einen guten Grund dafür, dass sich sein Volk schon vor langer Zeit abgeschottet hatte. Bis heute hatte Gabriel nicht verstehen können, wieso Lizzie nicht die geringsten Hemmungen in Sams Gegenwart hatte. Normalerweise spürten Menschen etwas, nahmen mit versteckten Sinnen wahr, dass es in ihrer Umgebung Personen gab, die sich von ihnen unterschieden. Diese Instinkte sorgten dafür, dass sie sich von ihnen fernhielten, was genau Azraels Plan war. Niemand wollte sich genauer mit einem Nicht-Menschen befassen, gerade Sam hatte etwas an sich, was die Leute verschreckte. Trotz seines Aussehens warfen die Menschen in seiner Näher misstrauische Blicke über ihre Schultern hinweg in die Schatten. Er vermittelte ihnen das Gefühl, besser nicht zu Fuß nach Hause zu gehen oder sich in dunklen Gassen herum zu treiben. Gerade für Kinder oder Jugendliche konnte das zu einem sehr einsamen Leben führen, mit einer derartigen Ausstrahlung fand man selten Freunde unter den Menschen.

Entweder hatte Lizzie diese Art von Instinkten nicht, oder sie ignorierte sie komplett. Gabriel wusste nicht, was ihr mehr Sorgen bereiten sollte.

Das Handy in ihrer Hand vibrierte.

Erschrocken blinzelte Gabriel, nahm den Anruf entgegen. “Ja?”

“Gabbs, was ist los?” Lizzie war am anderen Ende. Bei dem Klang ihrer Stimme schloss Gabriel erleichtert die Augen. Es tat so gut, Lizzies Stimme zu hören, zu wissen, dass sie noch am Leben war. “Du bist doch sonst kein Frühaufsteher”, fuhr ihre Nichte fort. “Willst du mir vielleicht von deinem Traum erzählen?”

“Es war nur ein Traum”, winkte Gabriel ab, schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter.

“Wenn es nur ein Traum wäre, dann würde es dich nicht so beschäftigen”, widersprach Lizzie. “Komm schon, erzähl mir davon.”

“Ich will dich nicht mit meinen Alpträumen nerven.”

Ihre Nichte schnaubte. “Gabbs, du sprichst hier mit der amtierenden Königin der Alpträume. Du musstest dir meine Träume oft genug anhören, dann kannst du mir auch deinen erzählen.”

Mit den Fingern fuhr Lizzies Tante sich über den Nasenrücken. Schließlich stieß sie einen Seufzer aus. Vielleicht war es gar nicht so verkehrt, Lizzie die Wahrheit zu sagen. Zumindest einen kleinen Teil davon.

“Es war ein Traum von dir und Sam”, erklärte Gabriel leise. “Voller Dunkelheit und Schmerz. Sam war völlig verzweifelt.”

“Wieso?”

Gabriel konnte förmlich die Alarmglocken in Lizzies Kopf hören. “Was ist passiert?”

Tief holte Gabriel Luft. “Er hat dich getötet, Kleines.”

An Lizzies Ende des Telefons herrschte Stille, nur leises Atmen war zu hören.

“Das ist doch verrückt”, murmelte Lizzie schließlich.

“Sage ich doch.” Gabriel stieß einen Seufzer aus. “Aber glaub mir, es war sehr real. Sam war wie ein völlig anderes Wesen. Er brachte dich um, und als er das erkannte, verlor er den Verstand.” Und einiges mehr, aber das musste Lizzie nicht wissen.

“Gabbs, Sam würde mir nie etwas tun”, beruhigte Lizzie ihre Tante. “Das weißt du.”

“Ein Teil von mir schon.” Ohne dass ihre Nichte es sehen konnte, zuckte Gabriel mit den Schultern. Fröstelnd zog sie die Decke höher. Von dem Traum war ihr noch immer kalt, er schien tief in ihren Knochen zu stecken. “Der andere Teil von mir macht sich einfach nur Sorgen.”

“Das ist dann vermutlich der verrückte Teil von dir, dem du auch diesen Traum zu verdanken hast”, seufzte Lizzie. “Glaub mir, du musst dir keine Sorgen machen. Sam hat nicht vor, mir Schaden zuzufügen. Im Moment ist er nicht einmal da.”

“Wie kannst du Sam dann trotzdem vertrauen?” Gabriel schloss die Augen, drückte sich das Handy näher gegen das Ohr. “Du weißt ja nicht einmal, wo er gerade steckt!”

“Gabbs, dass haben wir doch schon oft genug durchgekaut.” Sicherlich rollte Lizzie gerade mit den Augen.

“Dann erklär´ es mir nochmal”, bat ihre Tante.

“Herrje.” Etwas raschelte im Hintergrund, als Lizzie ihre Position verlagerte. “Ich vertraue ihm einfach”, erwiderte sie schlicht. “Sam weiß sicherlich, was er tut, auch wenn er es mir nicht sagt. In gewisser Weise muss ich darauf vertrauen, dass er es weiß.” Viel mehr blieb ihr bei seinen Geheimnissen auch nicht übrig. “Bisher ist er immer nach Hause zurück gekommen. Nach wie vor würde ich ihm mein Leben anvertrauen. Ich weiß nicht, wie ich es dir besser beschreiben soll.”

“Trotz seiner Geheimnisse? Und dem, was ich gesehen habe?”

“Was du gesehen hast, war nur ein Alptraum.” Selbst durch das Telefon konnte Gabriel Lizzies Lächeln hören. “Dieser Traum ist ein Produkt deiner Fantasie. Das sagst du mir selbst doch auch immer wieder, schon vergessen?” Lizzie seufzte. “Lass uns nachher in Ruhe einen Kaffee trinken. Glaub mir, wenn du erst etwas wacher bist, sieht die Welt wieder ganz anders aus. Im Laufe des Tages verblasst der Traum, bis du dich nicht mehr daran erinnern kannst.”

“Ich bezweifele, dass ich das vergessen könnte.”

“Soll ich zu dir fahren?”, erkundigte sich Gabriels Nichte. “Ich kann gleich losfahren, dann könnten wir noch zusammen frühstücken.”

“Nein, schon gut.” Gabriel musste lächeln. Das war typisch Lizzie. Sobald irgendjemand Probleme hatte, war sie da, ließ alles stehen und liegen. “Erst einmal brauche ich eine Dusche, ich muss mich noch fertig machen.”

“Gut, wenn du meinst.” Lizzie klang noch nicht überzeugt.

“Ich bin mir sicher.” Nun war es Gabriel, die ihre Nichte beruhigen musste. “Wir sehen uns später. Und auch, wenn du mich für verrückt hältst: Versprich mir bitte, dass du auf dich aufpasst.”

“Mach ich”, versprach Lizzie seufzend. “Aber es ist wirklich verrückt”, wiederholte sie überzeugt. “Sam könnte mir nie weh tun. Vergiss den Traum einfach wieder.”

“Klar, das wird schon. Bis nachher.”

“Bis dann!” Sie legten auf.

Dabei war Gabriel sich sicher, dass sie den Traum niemals würde vergessen können. Wieso sah sie nach all den Jahren Lizzie darin? War es vielleicht doch nur ihr paranoides Unterbewusstsein gewesen?

Sie schüttelte den Kopf. Irgendwie musste sie Sam aufstöbern und erneut mit ihm reden. Hoffentlich ließ sich der Junge dieses Mal davon überzeugen, sich von Lizzie fernzuhalten. Schon beim letzten Gespräch war nichts Gutes dabei heraus gekommen. Aber wenn er wirklich alles für Lizzie tun würde, dann musste er dieses Opfer bringen. Nur so hatte ihre Nichte die Chance auf eine Zukunft, die Chance auf ein Leben.

Selbst, wenn es ein Leben ohne Sam bedeutete.

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