Die alte Scheune

Wieder eine Geschichte, die vor Band 1 von „Schattenengel“ spielt. Ich mag die Beziehung zwischen Gabriel und Lizzie sehr gerne. Viel Spaß beim lesen!

“Danke, dass du das mit mir machst.” Lizzie strahlte ihre Tante an, während sie neben ihr im Scheuneneingang stand. “Das ist wirklich prima.”

“Wobei ich zugeben muss, dass ich es in diesem Augenblick bereue”, seufzte Gabriel. Missmutig fiel ihr Blick auf die mannsgroßen Spinnweben, die sich in der Ecke neben ihr befangen. Das konnte heiter werden. Aber sie hatte es Lizzie versprochen. Das Mädchen brauchte einen eigenen Ort, abseits von den Männern, wo sie ihre Kunst ausleben konnte. Die alte, ungenutzte Scheune schrie förmlich ihren Namen. “Also gut, packen wir es an.”

Beherzt griff sie nach dem Besen, scheuchte die Spinne damit hinaus. Gabriel hätte schwören können, dass diese Spinne die Größe eines kleinen Hundes hatte.

Lizzie holte von draußen die Farbeimer hinein, stellte sie mit einem leisen Ächzen neben die Wand. Dann verschwand sie wieder, kehrte zurück und hielt etwas hinter ihrem Rücken versteckt. “Keine Sorge, ich habe uns vorbereitet”, meinte sie. Ihr war klar, dass ihre Tante Gabbs den Tag lieber in der Sauna oder faul im Bett verbracht hätte, als mit ihr die alte Scheune wieder auf Vordermann zu bringen.

“Ach ja?” Argwöhnisch sah Gabriel sie an. “Ich denke, dass Schokolade mich nicht gerade motivieren wird.”

“Ich dachte eher an etwas Stärkeres.” Lizzie zwinkerte, präsentierte ihrer Tante dann die Flasche.

“Mein Lieblingssekt!”, rief Gabriel. “Du bist wirklich meine Lieblingsnichte!” Nun musste sie tatsächlich lächeln.

“Ich bin deine einzige Nichte”, erwiderte Lizzie trocken, lächelte jedoch dabei. Mit geübten Griffen entkorkte sie die Flasche. Bei den Veranstaltungen der Ärzte im Krankenhaus hatte sie oft genug ausgeholfen, um den Dreh raus zu haben. “Hier, halt bitte eben die Gläser”, bat sie, drückte Gabriel die Sektgläser in die Hand.

“Mit mehr Nichten würde ich auch gar nicht fertig werden. Du reichst mir völlig. Ganz zu schweigen von Sam.” Sie hielt inne, betrachtete Lizzie. “Wo steckt er eigentlich?”

Ihrer Nichte schoss die Röte in die Wangen. Sie wich Gabriels Blick aus, während sie den Sekt in die Gläser einschenkte. Er zischte und prickelte, verlockend stieg der Duft auf.

“Ich weiß es nicht”, gestand Lizzie schließlich. Gabriel würde ohnehin nicht locker lassen, bis sie eine Antwort erfahren hatte.

“Dann hat er es dir immer noch nicht gesagt?”, erkundigte diese sich sanft. Innerlich betete sie, dass Sam sein Geheimnis noch immer für sich behielt. Andererseits wäre es Gabriel sicherlich aufgefallen, wenn Lizzie etwas über Engel und Dämonen erfahren hätte.

“Nein. In letzter Zeit reden Sam und ich nicht so viel miteinander.” Lizzie senkte den Kopf, biss sich auf die Lippe. Dann jedoch holte sie tief Luft, hob ihr Sektglas. “Lass uns anstoßen, ja? Auf einen wunderschönen Tag!”

“Sicher.” Gabriel lächelte, sachte stieß ihr Glas gegen das von Lizzie. Beide nahmen sie einen Schluck, fühlten das Kribbeln des Sektes auf der Zunge. “Lass bloß deinen Vater nicht wissen, dass du mit mir Alkohol trinken darfst”, warnte sie.

Lizzie schnaubte. “Es ist ja nicht so, als würden wir uns betrinken. Wir reden hier von einer Flasche Sekt, Gabbs. Ich denke, Dad weiß darüber Bescheid.” Raphael kann sich denken, dass die Renovierung der Scheune keine langweilige Aktion werden würde.

“Nun, nach der Sache mit der Bowle letztes Jahr ist er wohl einfach vorsichtig.”

“Es war nur eine Flasche”, seufzte ihre Nichte.

“Kleines, es geht nicht um die Flasche.” Gabriel setzte sich auf einen der Farbtöpfe, streckte die langen Beine aus. “Du weißt, ich bin die Letzte, die dir einen Ratschlag zum Thema Alkohol geben sollte.” Sie warf einen Blick auf ihr eigenes Glas. “Dafür mag ich besonders diesen Sekt einfach zu gerne”, fügte Gabriel hinzu. Mit dem Kopf deutete sie auf die alte Holzkiste, die ihr gegenüber stand. Die Scheune konnte einen Moment warten, diese Unterhaltung mit Lizzie war erst einmal wichtiger.

“Worum geht es dann?” Lizzie befürchtete eine Predigt, setzte sich jedoch. Normalerweise konnte sie mit ihrer Tante wunderbar über alles reden, was sie beschäftigte. Sah man einmal von Sam ab. Doch ansonsten gab es nichts, was sie Gabbs nicht hätte fragen oder erzählen könnte. Zu jeder Zeit hatte ihre Tante ein offenes Ohr für sie.

“Es geht darum, dass du die Nacht mit Sam verbracht hast.”

“Oh, bitte!” Ihre Nichte rollte mit den Augen. “Wir sind nur zusammen eingeschlafen, das ist alles. Und das haben wir auch früher schon gemacht.”

“Früher wart ihr aber noch keine jungen Erwachsenen”, verbesserte Gabriel. “Erzähl mir nicht, dass du noch nie darüber nachgedacht hast.” Jeder konnte sehen, wie die beiden sich zwischendurch ansahen. Die Chemie zwischen Sam und Lizzie konnte man nicht leugnen. Im Prinzip wartete jeder nur darauf, dass der jeweils andere den ersten Schritt machte.

“Jetzt kommt aber nicht eine neue Version des Aufklärungsgespräches, oder?”, erkundigte Lizzie sich mit geröteten Wangen. “Das haben wir doch schon vor einigen Jahren hinter uns gebracht.” Auch, wenn sie bis zu diesem Gespräch völlig unwissend gewesen war.

“Nein”, lächelte ihre Tante. “Ich bin mir ziemlich sicher, dass du noch weißt, was ich dir gesagt habe.”

“Zwischen mir und Sam sind die Dinge so nicht”, erwiderte Lizzie leise. “Wir sind nur Freunde. Und zwischen uns ist nichts vorgefallen.” Sah man davon ab, dass das eine der letzten, gemeinsamen Nächte gewesen war. Kurz danach hatte Sam begonnen, seine Ausflüge auszudehnen.

“Wenn du mir das sagst, glaube ich dir das. Jedenfalls, dass da nichts gewesen ist.” Gabriel zuckte mit den Schultern. “Aber du solltest dir im Klaren darüber sein, dass Raphael und ich entsprechend besorgt sind. Du beziehungsweise ihr kommt in das Alter, wo Sachen wie Sex eine Rolle spielen.”

“Wir sind nur Freunde”, wiederholte Lizzie. Doch ihre Stimme zitterte. Sie seufzte, lehnte sich zurück. “Schön, erwischt.” Dem bohrenden Blick von Gabbs konnte sie nicht länger Paroli bieten. “Ja, ich mag Sam sehr gerne. Zufrieden?!”

Leise lächelte Gabriel, nahm einen Schluck aus ihrem Sektglas. Es hatte ganz schön gedauert, Lizzie die Wahrheit zu entlocken. Sonst trug ihre Nichte das Herz stets auf der Zunge, aber in diesem Fall war sie sehr verschlossen gewesen. Wie lange hatte sie schon darauf herum gegrübelt?

“Weiß Sam es denn?”

“Ich hoffe nicht.” Schon bei dem Gedanken daran fuhr Lizzie die Hitze in die Wangen. “Jedenfalls haben wir nie darüber gesprochen.” Welch verrückte Vorstellung. Sam war selten genug da, damit sie überhaupt Worte miteinander wechseln konnte. Geschweige denn, um darüber zu reden, was Lizzie fühlte. Wie sie sich jedes Mal fühlte, wenn er verschwand, sie im Unklaren zurückließ. Meistens genau dann, wenn sie sich gut verstanden hatten, so wie an ihrem Geburtstag. Es war fast so, als wollte Sam nach diesen Erlebnissen Abstand zu ihr gewinnen. Zeit haben, um seine Gedanken zu sammeln.

“Denkst du denn, dass es ihm genauso geht?”

“Gabbs, ich habe nicht die geringste Ahnung, was Sam denkt.” Sie nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Weinglas. Eigentlich hätte das ein aufregender, bedeutsamer Tag werden sollen. Und nun saß Lizzie deprimiert auf einer Holzkiste. “Sam ist nicht gerade der einfachste Mensch, den ich kenne.”

“Wem sagst du das”, murmelte ihre Tante. Sie zog eine Grimasse. So oder so, es beschäftigte Lizzie. “Im Endeffekt ist es nicht einmal wichtig, wie Sam dazu steht”, erklärte sie.

“Sehr lustig. Bei dir klingt das so, als würde ihn das nichts angehen.”

“Nein, so meinte ich das nicht. Aber viel wichtiger ist es, dass du weißt, was du willst.” Ernst sah Gabriel Lizzie an. “Wenn du das für Sam empfindest, was ich denke, dann solltest du es ihm sagen. Er wird es sicherlich wissen wollen. Es sei denn, du siehst darin keine Chance. Denn dir sollte klar sein, dass er sich nicht ändern wird. Sam wird niemals der häusliche Kerl werden, der sich nachts nicht mehr aus dem Fenster schleicht.”

Lizzie biss sich auf die Lippe. Wieder einmal dachte sie, dass Gabriel und ihr Vater ihr etwas verschwiegen. Manchmal hörten sich die beiden an, als wüssten sie mehr als Lizzie. Vielleicht wissen sie Bescheid über die Dinge, die Sam nachts und auf seinen Streifzügen trieb. Zumindest würde das erklären, wieso Raphael sich kaum Sorgen um seinen Adoptivsohn machte. Sam konnte zwar ziemlich gut auf sich aufpassen und sich zur Wehr setzen, aber dennoch wirkte ihr Vater recht unbesorgt. Genau wie Gabriel. Wobei ihre Tante wohl auch niemals zugeben würde, dass sie sich über Sam Gedanken machte.

“Ich kann es ihm nicht sagen”, meinte Lizzie leise. “Je besser wir uns verstehen, desto länger scheint er fortzubleiben.”

“Dann ziehst du es also vor, wütend auf ihn zu sein?”

“So ungefähr.” Sie zuckte mit den Schultern, seufzte. “Ich habe einfach Angst, Gabbs. Was, wenn ich es ihm sage, und er daraufhin nie wieder zurück nach Hause kommt?” Lizzies grüne Augen wirkten müde. Es war offensichtlich nicht das erste Mal, dass sie darüber nachgedacht hatte. Tatsächlich machte Lizzie sich große Sorgen darüber.

“Du kannst es aber nicht ewig für dich behalten”, mahnte Gabriel. “Willst du ihm das wirklich vorenthalten?” Sie war kein großer Fan von Sam, ganz bestimmt nicht. Aber sie wollte ihre Nichte auch nicht derart traurig sehen. Wenn sie könnte, würde sie Sam sofort anrufen, ihm die Leviten lesen und befehlen, gefälligst schleunigst zu Lizzie zurück zu kehren. Nur war ihr das nicht möglich, Gabriel wollte sich in diese Sachen auch nicht mehr einmischen, als notwendig war. Sams nächtliche Ausflüge kamen im Endeffekt auch ihr zugute: je weniger Himmelswölfe es gab, desto besser.

“Ich will nur nicht, dass er geht.”

“Das kannst du nicht verhindern. Sam wird tun, was er für richtig hält.” Sehr zu Gabbs Leidwesen. “Eines Tages wird er vielleicht wirklich nicht wiederkommen”, erinnerte sie Lizzie.

“Vielen Dank für deine aufmunternden Worte.” Lizzie zog eine Grimasse, nahm erneut einen Schluck aus ihrem Glas. “Gabbs, ich kenne Sam schon mein ganzes Leben. Ich weiß, wie er ist.” Ernst sah sie ihre Tante an. “Trotzdem vertraue ich ihm. Wenn Sam nicht mehr nach Hause kommt, wird er mir das vorher sagen. Da bin ich mir ziemlich sicher.”

“Hat er irgendwas getan, womit sich dieses Vertrauen in ihn rechtfertigt?” Gabriel zog skeptisch eine Augenbraue in die Höhe. “Bisher scheint er dir nur Kummer bereitet zu haben.”

Lizzie zuckte mit den Schultern. “Das macht er nur dann, wenn ich nicht weiß, wie es ihm geht. Sam hat eben seine Geheimnisse, und die behält er für sich. Manchmal weiß ich nicht, ob ich die Wahrheit überhaupt wissen will.” Sie war sich sicher, dass Sam ihr die Dinge aus einem guten Grund vorenthielt.

Abrupt stand Lizzie auf. “Lass uns nicht mehr über Sam reden”, bat sie. “Das führt zu nichts.”

“Schön, meinetwegen.” Gabriel rollte mit den Augen. “Versprich mir einfach nur, dass du etwas vorsichtiger bist, ja? Ich will nicht, dass Sam dich in Schwierigkeiten bringt.”

“Das würde er nie machen”, verteidigte Lizzie ihren Freund. Sie stellte ihr Glas ab, griff nach dem Besen. Schwungvoll begann sie damit, die Spinnweben zu entfernen und die Bewohner hinaus zu jagen. Das hier würde ein Ort nur für sie werden, und Lizzie brauchte diesen Ort. Einen Platz, an dem sie nicht ständig an Sam erinnert wurde, sondern einfach ihre Gedanken schweifen lassen konnte.

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