Tee zwischen Engel und Dämon

Hierfür solltet ihr Band 1 kennen, damit ihr euch nicht aus Versehen die wahren Identitäten meiner Charaktere spoilert 😉 Sie spielt vor Band 1 und beleuchtet ein wenig die Beziehung zwischen Sam und Raphael. Viel Spaß!

Abwartend betrachtete Raphael den jungen Mann. Lizzie war bereits zu Bett gegangen, völlig erschöpft davon, dass sie so knapp mit dem Leben davon gekommen war. Nun war nur noch Sam übrig.

Raphael lehnte sich an den Türrahmen. Der Junge war groß für sein Alter, Schatten unter den Augen ließen Sam älter wirken, als er wirklich war.

Was sollte er jetzt machen? Für ihn war es offensichtlich, dass Sam kein Mensch war. Damals hatte er Elizabeth versprochen, dass er Lizzie von seiner Welt fernhalten würde. Jetzt schien genau diese Welt ihr das Leben gerettet zu haben.

Sam ballte die zitternden Fäuste. Er spürte, dass Raphael anders war. Trotz der ruhigen Art von Lizzies Vater konnte Sam seine Skepsis nicht ganz überwinden. Was war das für ein Mann? War er ebenfalls ein Dämon?

Aber schon bei dem Gedanken daran lief Sam ein Schauer über den Rücken. Nein, Lizzies Vater war anders, doch er war kein Dämon.

“Ich denke, eine Tasse Tee wäre jetzt eine gute Idee”, fand Raphael. Er lächelte dem erstarrten Dämon zu. “Komm, reden wir ein wenig.”

Bevor Sam antworten konnte, drehte er sich um. Mit wenigen Schritten erreichte er die Küche, ging zu dem Herd und füllte die alte Kanne mit Wasser. Als Raphael diese auf den Herd stellte, der mit einem Klicken ansprang, betrat Sam die Küche.

“Schließ bitte die Tür”, bat Raphael, sah über seine Schulter zu ihm hin. Plötzlich wirkte Sam nicht mehr wie ein Dämon, sondern wie der verlorene Junge, der er war. “Und setz dich”, fügte er hinzu. “Ich hoffe, du magst Kamillentee.”

“Weiß ich nicht”, gab Sam zu, runzelte die Stirn. Wollte Raphael jetzt wirklich mit ihm einen Tee trinken? Das war verrückt.

Dennoch ließ er sich vorsichtig auf einen der bunten Stühle sinken. Er hatte nichts zu verlieren.

Völlig ruhig suchte Raphael eine Tasse aus dem Regal über der Spüle, legte einen Teebeutel hinein. Der Kessel brummte, wollte mit seinem Pfeifen beginnen, da nahm Lizzies Vater ihn vom Herd. Mit routinierten Bewegungen goss er das dampfende Wasser in die Tassen, setzte sich mit ihnen Sam gegenüber. Eine rote Tasse schob er dem Jungen zu.

“Warte noch ein wenig”, meinte er. “Tee, und ganz besonders Kamille, braucht seine Zeit.”

Skeptisch beäugte Sam den Teebeutel. Bei ihm zu Hause hatte es nur Kaffee gegeben, eine dünnflüssige, furchtbare Brühe. Das hier sah viel besser aus.

Raphael seufzte. Wie sollte er anfangen?

“Weißt du, was du bist?”, erkundigte er sich leise.

Tief atmete Sam ein, legte beide Hände um die dampfende Tasse. “Ich weiß, dass ich anders bin”, kam seine zögerliche Antwort. Noch wusste er nicht, ob er Lizzies Vater trauen konnte. “Meine Mutter hat es mir gesagt.”

“Ich kann mir vorstellen, dass das für dich sehr schwierig ist.” Sanft sah Raphael ihn an. So ein Gespräch hatte er noch nie geführt. “Doch ich möchte, dass du so ehrlich zu mir bist, wie nur möglich. Nur dann können wir zusammen überlegen, wie es weitergeht. In Ordnung?”

Angestrengt sah Sam auf die Tischplatte. Er hatte Lizzie gerade erst kennengelernt. Sie war ihm wie eine Rettung erschienen, wie ein Hinweis. Sollte er sie jetzt wirklich schon wieder verlassen?

Er schluckte den Kloß in seinem Hals herunter. “Meine Mutter sagte, ich sei ein Dämon”, flüsterte Sam schließlich.

Raphael nickte. “Ja, das ist wahr.”

Sam sah ihn überrascht an. “Was?”

Sein Gegenüber schmunzelte. “Dämonen sind real, Sam. Genau wie Menschen und Engel. Du bist also nicht verrückt, und deine Mutter auch nicht.”

“Dann bist du auch kein Mensch?”

“Nein.” Kurz sah Raphael zu Boden. “Nein, ich bin kein Mensch, Sam. Ich bin ein Engel.”

Fest krampfte Sam die Hände um seine rote Tasse. “Und Lizzie? Sie ist ein Mensch, nicht wahr?”

“Ja, Lizzie ist durch und durch menschlich.” Der Engel musste lächeln. Menschlicher konnte seine Tochter kaum sein. “Hast du jetzt Angst vor mir?”

“Ich weiß es nicht”, gestand Sam, biss sich auf die Lippe. Was für eine verrückte Unterhaltung. “Wenn du ein Engel bist, wirst du mich dann töten, weil ich ein Dämon bin?”

“Nein.” Beruhigend griff Raphael nach Sams zitternder Hand, bedeckte sie. “Du hast meiner Tochter das Leben gerettet”, erklärte er ernst. “Was auch immer passieren wird, ich stehe in deiner Schuld. Und du damit unter meinem Schutz.”

“Wovor willst du mich beschützen?” Sam runzelte die Stirn. “Sind es nicht die Menschen, die du vor mir beschützen musst?”

“Denkst du, dass sie deinen Schutz brauchen?” Fragend sah der Engel ihn an. “Nur, weil du ein Dämon bist, heißt das nicht, dass du automatisch bösartig bist.”

“Aber…”

“Vertrau mir.” Raphael zog seine Hand zurück. “Vor langer Zeit hatte ich einen Bruder, dessen Namen du sicherlich kennst. Unter den Menschen erzählt man sich Geschichten über ihn, sie nennen ihn Luzifer.”

“Satan?”

“Es ist einer seiner vielen Namen”, lächelte der Engel. “Ich ziehe es vor, ihn bei dem Namen zu nennen, unter dem ich ihn kannte. Und das ist entweder Luzifer oder Luzifel.”

“Wie kann er denn einst dein Bruder gewesen sein?” Das ergab keinen Sinn. War Luzifer nicht der Vater aller Dämonen?

“Oh, ich bin älter als ich aussehe”, zwinkerte Raphael. “Dämonen und Engel leben länger als Menschen, und Erzengel sogar wesentlich länger. Auch Luzifer war ein solcher Erzengel.”

“Was genau bedeutet das?” Sam sah zu, wie der Engel ihm den Teebeutel aus der Tasse nahm.

“Es gibt fünf Erzengel. Michael, Uriel, Luzifer, Lizzies Tante Gabriel und meine Wenigkeit. Jeder von uns verfügt in einem höheren Maßstab über ein bestimmtes Element. Manch einer bezeichnet uns auch als die Urform dieser Kraft. In meinem Fall ist es der Wind. Er gehorcht meinen Befehlen, ich kann ihn nach meinem Willen lenken. Ihn zum Angriff oder zur Verteidigung nutzen. Ganz, wie ich es für richtig halte.”

“Kannst du es mir zeigen?”

Raphael schüttelte den Kopf. “Nein, das geht leider nicht. Ich habe Lizzies Mutter vor langer Zeit versprochen, mich aus diesem Teil der Welt fernzuhalten. Alleine schon, damit unsere Tochter in Sicherheit aufwachsen kann. Doch du kannst deine eigenen Kräfte ausprobieren”, schlug er vor. “Ich kann dir zeigen, wie das geht.”

“Was? Ich habe keine Kräfte!”

“Doch, ganz sicher sogar. Fast jeder Dämon und Engel hat welche, glaub mir. Nur ganz wenige bilden eine Ausnahme, aber das erzähle ich dir ein andermal- sofern du es willst.” Kurz hielt der Engel inne. “Schließ einfach deine Augen, Sam. Atme tief ein und aus, achte genau auf dein Herz.” Widerwillig kam Sam der Aufforderung nach. Wohl war ihm nicht dabei. Ein Dämon zu sein, war schon schlimm genug, aber auch noch über Kräfte zu verfügen? Das konnte er nicht auch noch gebrauchen.

“Sehr gut”, hörte er Raphaels warme Stimme. “Nun hebe deine Hand, beweg sachte die Finger. Konzentriere dich ganz auf dein Herz, sie ist Teil deiner Seele und Quelle deiner Macht.”

“Da gibt es keine Macht”, seufzte Sam. Dennoch bewegte er die Finger. Es würde sowieso nichts dabei herumkommen.

“Interessant”, murmelte Raphael. “Das verändert die Dinge.”

“Wieso?” Sam öffnete die Augen, sah auf seine Hand. Er zuckte zurück, und schlagartig verschwanden die Schatten darum. Hinterließen ein kribbelndes Gefühl in seinen Fingerspitzen. “Was zur Hölle war das?!”

“Beruhige dich”, bat Raphael. “Wenn du diese Kräfte noch nicht unter Kontrolle hast, darfst du nicht so leicht die Fassung verlieren. Sie sind in der Lage, ziemliches Chaos zu verursachen.” Es war fraglich, ob selbst seine Kräfte die Schatten dann noch eindämmen konnten. “Halten wir fest, dass du auf jeden Fall Kräfte hast. Nach Luzifer bist du der einzige Dämon, der über die Dunkelheit herrscht. Glückwunsch”, fügte er trocken hinzu. Nun hatte er also tatsächlich Luzifers Erben an seinem Küchentisch setzen. Denjenigen, nachdem die Dämonen ständig auf der Suche waren.

War es ein glücklicher Zufall, dass Sam und Lizzie sich getroffen hatten? Oder doch so etwas wie Schicksal?

“Ich will diese Kräfte nicht!” Schaudernd ballte Sam die Fäuste. Das machte das Ganze nur noch schlimmer.

“Das kannst du nicht ändern”, erklärte der Engel. “Sie sind ein Teil von dir. Aber das ist nicht zwangsweise etwas Schlechtes.”

“Ach nein? Wie soll ich diesen irren Dingen denn etwas Gutes abgewinnen?”

“Wie gesagt, du kannst mit diesen Fähigkeiten auch anderen helfen. Du kannst die Schatten dazu benutzen, um zu verteidigen, um Leben zu retten. So, wie du heute Lizzie gerettet hast.” Raphael zuckte mit den Schultern. “Was deine Schatten tun, hängt ganz von dir ab, Sam. Natürlich kannst du damit unglaublichen Schaden anrichten, wenn du das willst. Oder, du versuchst, sie nützlich einzusetzen.”

Tief atmete Sam ein. “Das ist verrückt”, stellte er fest. “Ich weiß nicht, was ich von alledem halten soll.”

“Das ist bestimmt sehr viel, was jetzt auf dich einstürzt.” Er konnte sich nicht vorstellen wie sich das anfühlen musste. Als er damals erfuhr, was es mit Engeln und Dämonen auf sich hatte, war das im Kreise seiner Geschwister geschehen. Für sie waren Elemente und Kräfte völlig normal. Viel unrealistischer war es für sie, ein Mensch zu sein, keine Fähigkeiten oder Flügel zu besitzen.

Ach herrje, Flügel. Das hätte Raphael beinahe vergessen. Besser, er erzählte Sam erst später davon. Wenn Luzifers Erbe nun die Kontrolle verlieren und durchdrehen würde, hatte nicht nur die Stadt Lillienmarsch ein Problem.

“Mach dir keine Sorgen, Sam. Mit solchen Kräften umzugehen, ist wie atmen. Du wirst lernen, sie zu beherrschen.” Aufmunternd lächelte der Engel ihn an. “Zwar setze ich meine Kräfte selber nicht ein, aber ich kann dir beibringen, wie es geht.”

“Obwohl du ein Engel bist?”

“Ich bin anders als die anderen Engel. Mit diesem Krieg habe ich nichts zu tun.” Raphael nahm einen Schluck aus seiner Tasse. Kamille war und blieb einfach sein Lieblingstee, er hatte so eine beruhigende, angenehme Wirkung. “Weder die Engel noch der Himmel ist noch das, was er einmal war. Nicht, seit Azrael die Kontrolle an sich gerissen hat. Doch das erzähle ich dir ein anderes Mal.”

Sam biss sich auf die Lippe. Himmel? Azrael? Was sollte das alles bedeuten? Und in was war er da hinein geraten?

“Wann kann ich wiederkommen?”, fragte er leise. Wenn der Engel ihm helfen konnte, dann musste er diese Chance ergreifen. Wer sonst würde ihm die Wahrheit über diese Dinge sagen können? Raphael schien der Einzige zu sein, der ihm helfen konnte.

“Warum willst du denn gehen?” Der Erzengel zog die Augenbrauen in die Höhe. “Du kannst gerne hier bleiben.”

“Was ist mit Lizzie? Wenn sie nur ein Mensch ist, dann…”

“Mach dir um sie keine Sorgen. Ich habe einige Vorsichtsmaßnahmen getroffen, damit Engel nicht auf sie aufmerksam werden.”

“Aber sie weiß nicht Bescheid?”

“Nein.” Raphael sah ihn ernst an. “Und sie darf es auch nie erfahren. Sie von unserer Welt fernzuhalten, ist meine einzige Bedingung für meine Hilfe.”

“Ist es denn nicht gefährlich für sie?”

“Versprich es mir”, forderte Lizzies Vater.

Sam nickte. “Sicher.” Sein Blick war ernst, selbst für einen Jungen seines Alters. “Ich verspreche es.” In diesem Augenblick wusste Raphael, dass Sam sein Versprechen halten würde. Ganz egal, was es ihn kostete.

“Nicht, wenn du deine Kräfte wirklich beherrscht. Glaub mir, dass ist nur eine Frage der Zeit.”

“Dann…” Sam runzelte die Stirn. Bedeutete es das, was er dachte? “Dann kann ich tatsächlich hier bleiben?”

“Natürlich!” Das Lächeln des Erzengels war herzlich. Es würde schön werden, hier etwas Gesellschaft zu haben. “Du kannst so lange hier bleiben, wie du es möchtest. Ich bin mir sicher, dass Lizzie sich darüber freut.”

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