Kurzgeschichte „Die Mutprobe“

Auch heute gibt es wieder eine Kurzgeschichte, die bei einer Anthologie leider abgelehnt wurde. Sie ist völlig unabhängig von meinen anderen Büchern und hat nicht einmal Fantasyelemente. Vielleicht war das der Knackpunkt 🙂

Die Mutprobe

Ich muss es ihm sagen, dachte Susan. Doch schon bei dem Gedanken daran zitterten ihre
Hände, und schützend legte sie die Arme um ihren Oberkörper. Susan warf einen Blick aus
dem Fenster. Von hier aus konnte sie die Postfiliale sehen, und schon bald würden sie die
Tür aufschließen.
Nein, verbesserte Susan sich in Gedanken, und für einen Augenblick schlug ihr Herz
schneller. Es wird Hannes sein, der die Tür aufschließt. So wie jeden Morgen, seit er in die
Stadt gezogen war.
Bei der Erinnerung daran, wie Susan ihn das erste Mal gesehen hatte, biss sie sich auf die
Lippe. An diesem Tag hatte es geschneit, und die Schneeflocken hatten in Hannes´ dunklen
Haaren geglitzert. Er hatte Susan angesehen und so herzlich gelächelt, dass sie wie erstarrt
gewesen war. Noch nie hatte sie jemanden gesehen, der so sanft und attraktiv zugleich
wirkte.
Natürlich war das nicht nur ihr aufgefallen. Einige Frauen aus der Stadt hatten plötzlich
ungewöhnlich viele Briefe und Pakete aufgegeben. Und waren dabei ausgesprochen schick
angezogen gewesen.
Nach und nach waren diese Besuche jedoch weniger geworden. Susan nahm an, dass sie
eine Abfuhr erhalten hatten. Was ihre eigene Unsicherheit nur weiter bestärkte. Was, wenn
Hannes sich in einer Beziehung befand? Es würde sie nicht überraschen. Jede Frau und
jeder Mann konnten sich glücklich schätzen, mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Jeden Morgen
schien er gut gelaunt zu sein, und lächelte Susan zu. Seine braunen Augen waren dabei
voller Wärme und erinnerten sie an die Farbe von Maronen, die auf dem Weihnachtsmarkt
immer so herrlich dufteten.
Doch mehr als diese gelegentlichen Begegnungen zwischen ihnen hatte es nie gegeben,
und keiner von ihnen hatte dabei mehr als die üblichen Begrüßungsfloskeln hervorgebracht.
In letzter Zeit hatte Susan den Eindruck, dass Hannes ihr etwas sagen wollte, doch stets war
etwas oder jemand dazwischen gekommen. Als hätte sich alles dagegen verschworen, dass
sie einen Schritt aufeinander zumachten.
Aber so konnte Susan nicht weitermachen. Und keinesfalls wollte sie eine der Frauen sein,
die ewig und stillschweigend einen Mann anschmachteten.
Nein, Susan wollte eher wie eine der Heldinnen aus ihren geliebten Büchern sein. Besonders
wie diejenigen, die Jane Austen in ihren Romanen beschrieb. Manchmal dachte Susan, dass
die Welt damals einfacher gewesen war, zumindest wenn man aus gutem Hause kam. Dann
hatte man den ganzen Tag nichts anderes getan, als zu lesen, zu flanieren, sich
Handarbeiten zu widmen oder Briefe zu schreiben.
Briefe? Briefe!
Susan blinzelte. Das war einfach perfekt. Sie würde Hannes einen Brief schreiben und ihm
erklären, wie sie sich fühlte. Und ich werde ihn um ein Treffen bitten. Ein Gedanke, der fast
noch beängstigender war, als mit ihm zu sprechen. Aber es war der richtige Schritt. Sonst
würde sie nie herausfinden, ob er sie ebenfalls mochte.
Mit festem Schritt ging Susan zu ihrem Schreibtisch. Sie nahm ein Blatt ihres mit Blumen
verzierten Briefpapiers heraus sowie ihren Lieblingsstift. Voller Zuversicht setzte sie sich hin
und positionierte das Blatt vor sich.
Welches jedoch derart erwartungsvoll wirkte, dass sie stockte.
Was sollte sie schreiben? Wie sollte sie anfangen? Mit Hallo? Nein, das wäre zu
unbestimmt. Guten Tag? Viel zu höflich. Lieber Hannes? Ja, das passte.

Sie setzte zum Schreiben an, hielt allerdings inne. Sollte ein Datum auf den Brief? Doch was,
wenn sie dann zu viel Zeit brauchte, um den Brief zu übergeben? Würde ein Datum dann
nicht seltsam wirken? Was würde es über sie aussagen? Vielleicht sollte sie den Brief dann
neu schreiben, wenn es so weit war.
Susan schüttelte den Kopf. Erst einmal würde sie das Datum weglassen. Schließlich war
dies nicht das Wichtigste an dem Brief. Auf den Inhalt kam es an. Und darauf, dass sie den
Mut fand, ihn auch an Hannes zu übergeben.
Erst der Brief.
Tief atmete Susan ein. Die Anrede hatte sie schon einmal.
Doch wie ging es weiter? Sie konnte ihm schließlich schlecht sagen, dass sie ihn
beobachtete, das könnte er falsch verstehen.
Toll. Dabei dachte ich, dass ich mich schriftlich besser ausdrücken könnte. Missmutig lehnte
sie sich auf dem Stuhl zurück. So würde das nie etwas werden.
Aufgeben war jedoch keine Option. Es konnte doch unmöglich so schwer sein, ihre Gefühle
in Worte zu fassen. Andere schafften das schließlich auch.
Also gut. Susan starrte das Briefpapier an, als würde es so zuerst nachgeben.
Was es natürlich nicht tat.
Okay, vielleicht sollte ich weniger über mich erzählen und ihn einfach fragen, ob wir mal
etwas zusammen unternehmen wollen.
Nur, was? Kaffee trinken oder ein Abendessen oder…
Stop. Ich zerdenke mir das alles viel zu sehr, fand Susan. So etwas hätten Emma
Woodhouse oder Elizabeth Bennet nicht getan. Sie hätten auf ihre Gefühle gehört.
Susan schloss die Augen und holte tief Luft.
Wenn sie an Hannes dachte, dann fühlte sie sich nervös und unsicher. Aber da war auch
diese Schwerelosigkeit in ihr, die sie lächeln ließ. Dann wurde ihr warm und sie hatte das
Gefühl, als wenn alles gut werden würde.
Nur war es schwer, das auch in Worte zu fassen. Kein Wunder, dass man sich in der Schule
früher nur Zettel zum Ankreuzen geschickt hatte.
Sie zögerte.
Ehe sie es sich erneut anders überlegen konnte, schrieb sie genau das auf das Papier.
Rasch legte Susan den Brief in den Briefumschlag, klebte ihn zu und legte ihn auf den Tisch.
Geschafft.
Zumindest der erste Teil.
Ich sollte es einfach tun.
Knarzend rutschte der Stuhl über die Holzdielen, als Susan aufstand. Sie hatte schon viel zu
viel Zeit diesem Brief gewidmet. Wenn sie jetzt überlegte, wann der richtige Zeitpunkt
gekommen war, würde sie Hannes nie den Brief geben. Der Brief an sich war schon
schwierig gewesen, aber er hatte ihr auch Mut gegeben. Wenn sie das schaffte, dann würde
sie auch den Rest hinbekommen.
Dennoch zitterten ihre Hönde, als sie sich ihren Mantel vom Haken nahm und ihre Stiefel
anzig. Beinha ehätte sie den Brief vergessen, aber Susan drehte noch einmal um und schob
ihn in ihre Handtasche.
Hier ihr fiel die Tür beinahe unheilverkündend ind Schloss, aber Susan beschloss, das zu
ignorieren. Es würde schon alles gut werden.
Leichten Schrittes lief Susan die Treffen hinunter. Ihr schlug angenehm kühle Luft entgegen,
als sie die Straße überquerte.
Nur wenige Augenblicke später hatte Susan die Postfiliale erreicht. Wieder einmal war viel
los, und sie stellte sich in der Reihe an. Es waren noch fünf Frauen vor ihr dran. Sie sah an
ihnen vorbei.

Hannes stand hinter dem Postschalter, und ihr Herz schlug schneller. Er hatte für jede der
Frauen ein Lächeln und freundliche Worte übrig.
Mit jedem Schritt, den Susan sich ihm näherte, schlug ihr Herz lauter. Sie hatte das Gefühl,
als könnte es jede einzelne Person um sie herum hören. Was sollte sie sagen, wenn jemand
sie darauf ansprach? Schon jetzt warfen ihr die anderen seltsame Blicke zu.
Über ihre Schulter sah Susan zurück. Vielleicht sollte sie doch einen Rückzieher machen.
Möglicherweise war dieser Schritt zu voreilig gewesen. Sie könnte sich ihre genauen Worte
überlegen, wenn sie nach Hause zurück ging und…
Plötzlich stand sie direkt vor Hannes.
Er sah auf, und sein Lächeln wurde breiter. “Hallo!”, begrüßte er sie. “Ich habe mich schon
gefragt, wann du mal einen Brief abgeben würdest.”
“Ich…also…” Angestrengt durchforstete Susan ihren Kopf nach Worten, und ihre Hand fuhr
zu dem Brief in ihrer Handtasche.
“Bitte entschuldige.” Zerknirscht sah Hannes sie an. “Ich wollte dich nicht in Verlegenheit
bringen.”
“Das… hast du nicht”, brachte Susan mühsam heraus. Das hier war viel schwerer, als den
Brief zu schreiben. Ich bin dafür nicht bereit. Wenn er mich so ansieht, dann zittern meine
Knie und ich…
“Freut mich, das zu hören.” Hannes sah an ihr vorbei, doch sie war die Letzte in der Filiale.
Oder hielt sie ihn von etwas Wichtigem ab? “Wir haben uns schon oft gesehen, und ich
wollte dich die ganze Zeit ansprechen, aber…” Sichtlich nervös biss Hannes sich auf die
Lippe. “Ich kann so etwas nicht gut”, entschuldigte er sich. “Aber… würdest du mit mir mal
einen Kaffee trinken?”
Die Stille zwischen ihnen war praktisch greifbar, und schien sich bis in die Unendlichkeit
auszudehnen. Eine Ewigkeit, in der Hannes sie unsicher ansah und Susan langsam die
Hand von ihrem Brief zurückzog.
Sie räusperte sich, traute ihrer eigenen Stimme nicht.
“Ja”, erklärte Susan und lächelte. Dabei blickte sie Hannes geradewegs in seine warmen
Augen. “Ich würde sehr gerne einen Kaffee mit dir trinken.”

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